„Im Frühling sterben" von Ralf Rothmann

Eine Literaturandacht
Autor: OKR Joachim Ochel, EKD
Literaturandacht im Deutschen Bundestag am 10. September 2015 zu dem Roman „Im Frühling sterben“ von Ralf Rothmann. Berlin: Suhrkamp 2015. 233 S. ISBN 978-3-518-42475-9, geb.: 19,95
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Übersicht/ Ablauf
Wochenspruch Ps. 103,2 „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.
Lied EG 443, 1+2 „Aus meines Herzens Grunde“
Liturgischer Gruß
Psalm Ps. 146 (EG 757) „Der Herr hält Treue ewiglich“
Ansprache
Lied EG 443, 6+7 „Aus meines Herzens Grunde“
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Ansprache
Es ist schon ungewöhnlich, liebe Gemeinde Jesu Christi im Deutschen Bundestag, dass einem Roman der deutschen Gegenwartsliteratur ein biblisches Leitmotiv vorangestellt wird. So aber ist es in dem vor wenigen Wochen erschienenen jüngsten Roman von Ralf Rothmann mit dem Titel „Im Frühling sterben“.
Ralf Rothmann zählt zu meinen Lieblingsautoren. Er wurde 1953 in Schleswig geboren. Sein Vater arbeitete zu der Zeit als Melker in der Landwirtschaft. Rothmann wuchs dann im Ruhrgebiet in der Nähe von Oberhausen auf, wo sein Vater als Bergmann Arbeit fand. Seit Ende siebziger Jahre lebt Ralf Rothmann in Berlin. Einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde er vor allem durch seine wunderbar anschaulichen Ruhrgebietsromane, die das Leben der kleinen Leute zwischen Zeche, Sportplatz, Kirche und Pommes Bude nachzeichnen.
Seiner neuesten Veröffentlichung stellt Ralf Rothmann nun das biblische Wort aus dem Buch Ezechiel voran: „Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden.“ Ich werde darauf noch zurückkommen.
„Im Frühling sterben“ wird hoch gerühmt. Zurecht wie ich finde. Zur Handlung nur so viel, wie der Buchklappentext verrät:
„Im Frühling sterben ist die Geschichte von Walter Urban und Friedrich – »Fiete« – Caroli, zwei siebzehnjährigen Melkern aus Norddeutschland, die im Februar 1945 zur Waffen SS zwangsrekrutiert werden. Während man den einen als Fahrer in einer Versorgungseinheit einsetzt, muss der andere, Fiete, an die Front. Er desertiert, wird gefasst und zum Tod verurteilt, und Walter, dessen zynischer Vorgesetzter nicht mit sich reden lässt, steht plötzlich mit dem Karabiner im Anschlag vor seinem besten Freund ...“
Ralf Rothmann Romane und Erzählungen haben oft einen autobiographischen Hintergrund. So auch hier. Im Schicksal von Walter Urban spiegeln sich die Kriegserfahrungen seines Vaters wieder. In einem Interview sagt er über ihn: „Mein Vater verkörperte eine verlorene Generation des vorigen Jahrhunderts. Mit 18 noch in den Krieg gegangen, auf allen Vieren herausgekrochen, an Körper und Seele verletzt. Dann nochmal verpulvert im Wirtschaftswunder, als schwer arbeitender Bergmann unter Tage 30 Jahre lang. Und dann mit 55 kaputtgearbeitet, frühverrentet, mit 60 schwerer Alkoholiker, mit 61 tot.“ Die Traumatisierungen des Krieges – selten habe ich sie besser nachempfinden können als bei der Lektüre dieses Buches. Und verstanden, warum darüber geschwiegen wurde, denn die „verlorene Generation“ war ja auch meist eine „schweigende Generation“. Noch einmal Ralf Rothmann dazu: „Das eigentliche Zentrum des Buches war ein Vakuum, das mein Vater bei mir hinterlassen hat, als ich ihn fragte, ob er denn im Krieg auch geschossen habe. Er schaute ganz verdattert meine Mutter an und fragte: Was soll ich denn jetzt darauf antworten? Und meine Mutter sagte zu mir: Los, geh dein Zimmer aufräumen.“ Durch das Verschweigen wurden die traumatischen Erfahrungen zu einer Belastung der nächsten Generation. Rothmann selbst träumt regelmäßig davon, erschossen zu werden. Die Traumaforschung hat bestätigt, dass sich Traumata förmlich vererben. So, wie es der biblische Leitspruch zum Ausdruck bringt: „Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden.“ Werden solche Erfahrungen verschwiegen, wirken sie umso stärker. Deshalb stellt der Roman den Versuch dar, dem Vater postum eine Stimme zu geben und seine Geschichte zu erzählen, damit sie die Macht über den Sohn verliert. Literatur als Therapie. Für Autor sowie Leserin und Leser.
Theologisch bemerkenswert ist nun aber, dass das Bibelwort nur verkürzt zitiert wird. Es kommt bei den Propheten sogar zweimal vor und ist beides Mal als Sprichwort gekennzeichnet, das eigentlich seine Gültigkeit verloren hat.
Beim Propheten Ezechiel lautet es:
Und des Herrn Wort geschah zu mir: Was habt ihr unter euch im Lande Israels für ein Sprichwort: ‚Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden.’ So wahr ich lebe, spricht Gott der Herr; dies Sprichwort soll nicht mehr unter euch umgehen in Israel. Denn siehe, alle Menschen gehören mir; die Väter gehören mir so gut wie die Söhne; wer sündigt, soll sterben. Wenn nun {aber} einer gerecht ist und Recht und Gerechtigkeit übt ... soll er leben.“
Weil jeder und jede Einzelne in einem eigenen, individuellen Verhältnis zu Gott stehen, werden sie von Gott nicht für die Schuld der Väter haftbar gemacht, erhalten sie eine eigene Lebenschance.
Und vergleichbar, aber etwas anders nuanciert lautet es bei Jeremia:
Ich will einen neuen Bund schließen. Dann wird man nicht mehr sagen: ‚Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden’.
Weil Gott eine grundlegend neue Situation herbeiführt, wird die Schuldverstrickung begrenzt. Die prophetische Revision des Sprichworts setzt historisch sowohl bei Jeremia wie bei Ezechiel die Katastrophe von 587 voraus - also die Nullpunktsituation des staatlichen Untergangs. Eine Situation vergleichbar der von 1945 in Deutschland. Der Situation, wo Walter Urban versucht in ein normales Leben zurückzufinden. Ein Versuch, der nicht gelingt. Und es hat 70 Jahre gebraucht - fast das ganze Leben seines Sohnes lang - die Gründe zu benennen, sie so nachzuvollziehen, dass sie ihre Macht verlieren.
Warum nur geht Ralf Rothmann philologisch so unkorrekt mit dem Bibelwort um, habe ich mich gefragt. Warum kein Hinweis auf die Gattung des Sprichworts? Warum kein Hinweis auf den Widerspruch, seine Außerkraftsetzung durch die Propheten Jeremia und Ezechiel?
Ich denke, weil der Roman selbst den Versuch darstellt, das beschwörende Wort auszusprechen: Das Sprichwort soll nicht mehr gelten! Es wird außer Kraft gesetzt durch Verstehen, Bewusstmachen und Nacherzählen der Traumata und Schulderfahrungen einer Lebensgeschichte.
Ist das ein Widerspruch zu Jeremia und Ezechiel, die auf Gott verweisen? Ich denke nicht, gewinnt doch solches Verstehen, Bewusstmachen und Nacherzählen erst seine Tiefendimension in der Ahnung einer anderen Wirklichkeit, im Glauben an einen gnädigen Gott – einen Gott, der Neuanfänge ermöglicht, der Schuld vergibt, dem nichts Menschliches fremd ist und der alle Tränen trocknen wird. So denkt auch Ralf Rothmann, wie er in seinen Büchern zu erkennen gibt und wie er in einem Interview bestätigt: „Aber eine Sehnsucht hat doch jeder. Dass das was Wirklichkeit ist, nicht die alleingültige Wahrheit ist. Ein bisschen Metaphysik schleppt jeder mit sich herum. Meine Mutter kam vom Land, hatte keine Bücher gelesen, kaum Schulbildung. Trotzdem sagte sie immer, ohne die Vorstellung eines Gottes könne sie nicht leben.“ Ja, so ist es.
Amen