"Der Überläufer" von Siegfried Lenz

Literaturgottesdienst zum Volkstrauertag (13. November 2016)
Autorin: Pfarrerin Barbara Friedrich
Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres: ‚Der Überläufer‘ von Siegfried Lenz. Hamburg: Hoffmann und Campe 2016. ISBN 978-3-455-40570-5.
Vorbemerkungen:
Der Gottesdienst sollte von mindestens zwei Stimmen gesprochen werden: LiturgIn/PredigerIn und LeserIn der Zitate aus dem Roman. „Der Überläufer“ ist einer, der die Seiten wechselt. Mit diesem Bild könnte der Gottesdienst dramaturgisch gestaltet werden, wenn der Raum, in dem er stattfindet, das möglich macht: Wechselgesänge zwischen den beiden Seiten der Kirche, den Bankreihen rechts und links, zum Beispiel bei den vielen Strophen des Eingangsliedes. Auch der Psalm könnte abwechselnd von der rechten und linken Seite gesprochen werden. Predigt und Lesung könnten auf verschiedenen Seiten stattfinden. Immer wieder finden sich – im Glaubensbekenntnis und im Vater Unser zum Beispiel - aber auch beide Seiten zusammen in einer Stimme.
Der Gottesdienst ist gestaltet ohne liturgische Wechselgesänge. In dem vorgelegten Ablauf ist auf eine biblische Lesung verzichtet worden, damit es nicht zu lang wird. Aber eine Lesung der Geschichte „Die Kundschafter in Jericho“ (Buch Josua 2, 1 – 21) über Rahab, die auch eine Überläuferin ist und die Fronten wechselt, wäre möglich und reizvoll. Gut passt auch die Geschichte vom Brudermord des Kain: 1. Mose 4, 1 – 16, auf die in der Ansprache Bezug genommen wird.
Zur VERSÖHNUNGSLITANEI VON COVENTRY:
Nach der Zerstörung der Kathedrale von Coventry (Großbritannien) am 14./15.November 1940 durch deutsche Bombenangriffe ließ der damalige Dompropst Richard Howard die Worte „Vater vergib“ in die Chorwand der Ruine meißeln. Diese Worte bestimmen das Versöhnungsgebet von Coventry, das die Aufgabe der Versöhnung in der weltweiten Christenheit umschreibt. Das Gebet wurde 1958 formuliert und wird seitdem an jedem Freitagmittag um 12 Uhr im Chorraum der Ruine der alten Kathedrale in Coventry und an vielen Orten der Welt gebetet. Quelle: Nagelkreuz.org
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Übersicht/Ablauf
Lieder
KAA 0166 Du Licht des Morgens
EG 584 Meine engen Grenzen
KAA 075 Wo Menschen sich vergessen
EG 430 Gib Frieden, Herr, gib Frieen
EG 178.9 Kyrie eleison
EG 170 Komm, Herr, segne uns
Verwendete Liederbücher:
EG: Evangelisches Gesangbuch (Ausgabe für die Evang. Kirche in Hessen und Nassau)
KAA: Kommt, atmet auf. Liederheft für die Gemeinde. Gottesdienstinstitut. ISBN 978-3-00-034878-5 (gebundene Ausgabe) 978-3-00-034877-8 (Paperback Ausgabe)
Eröffnung und Anrufung
Musik zum Eingang
Begrüßung
Lied KAA 0166 Du Licht des Morgens
Psalm 51 (EG 727): Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz
Versöhnungslitanei von Coventry
Lied EG 584 Meine engen Grenzen
Lesung und Erzählung
Lesung aus „Der Überläufer“ für zwei Stimmen
Musikalisches Zwischenspiel
Kurze Ansprache
Lied KAA 075 Wo Menschen sich vergessen
Glaubensbekenntnis / Fürbitte / Vater unser / Segen
Glaubensbekenntnis mit Worten von Dietrich Bonhoeffer
Lied EG 430 Gib Frieden, Herr, gib Frieden
Fürbittengebet mit Gebetsruf Kyrie eleison (EG 178.9)
Vater unser
Lied 170 Komm, Herr, segne uns
Segen
Eröffnung und Anrufung
Musik / Orgel
Begrüßung und Votum:
Wir feiern diesen Gottesdienst im Namen Gottes,
des Vaters, der uns sieht,
im Namen des Sohnes, der selig nennt die Friedensstifter,
im Namen des Geistes, der uns als Brüder und Schwestern verbindet
Eingangslied: KAA 0166 Du Licht des Morgens
Psalm 51 = EG 727 Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz
Eingangsgebet:
Gott, wir sind zu Dir gekommen. Wir suchen Dich. Wir klagen Dir.
Gott, Du Gott des Lebens: Wir haben Bilder von Gewalt und Krieg vor Augen. Unrecht und Unbarmherzigkeit quälen unzählige Menschen auf dieser Welt. Wir bitten Dich um Vergebung, um Frieden und um Heilung.
Gemeinsam beten wir die Versöhnungslitanei von Coventry:
Alle haben gesündigt und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten.
Den Hass, der Rasse von Rasse trennt, Volk von Volk, Klasse von Klasse,
Vater, vergib.
Das Streben der Menschen und Völker zu besitzen, was nicht ihr Eigen ist,
Vater, vergib.
Die Besitzgier, die die Arbeit der Menschen ausnutzt und die Erde verwüstet,
Vater, vergib.
Unseren Neid auf das Wohlergehen und Glück der Anderen,
Vater, vergib.
Unsere mangelnde Teilnahme an der Not der Gefangenen, Heimatlosen und
Flüchtlinge,
Vater, vergib.
Die Entwürdigung von Frauen, Männern und Kindern durch sexuellen Missbrauch,
Vater, vergib.
Den Hochmut, der uns verleitet, auf uns selbst zu vertrauen und nicht auf Gott,
Vater, vergib.
Seid untereinander freundlich, herzlich und vergebet einer dem anderen,
wie Gott euch vergeben hat in Jesus Christus.
Lied: EG 584 Meine engen Grenzen
Lesung und Erzählung
Lesung und Erzählung (Für 2 Stimmen)
Lesung: Der Überläufer von Siegfried Lenz. Der Klappentext des Buches:
„Es ist der letzte Kriegssommer. Der Soldat Walter Proska aus dem masurischen Lyck strandet bei einer kleinen Einheit, die eine Zuglinie sichern soll und sich in einer Waldfestung verschanzt hat. Bei sengender Hitze und zermürbt durch die stetigen Angriffe von Mückenschwärmen und Partisanen, längst aufgegeben von den eigenen Truppen, werden die Befehle des kommandierenden Unteroffiziers zunehmend menschenverachtend und sinnlos. Die Soldaten versuchen sich abzukapseln: Einer führt einen aussichtslosen Kampf gegen einen riesigen Hecht, andere verlieren sich in Todessehnsucht und Wahnsinn. Und für Proska stellen sich immer mehr dringliche Fragen: Was ist wichtiger, Pflicht oder Gewissen? Wer ist der wahre Feind? Kann man handeln ohne schuldig zu werden? Und: Wo ist Wanda, das polnische Partisanenmädchen, das ihm nicht aus dem Kopf geht?“
Große Teile des Romans spielen in einem Wald, in der Natur, die schön ist, reich und ein kräftiges Gegenbild ist zu dem grausamen Tun der Menschen:
Sie bahnten sich schweigend einen Weg durch das dichte Gestrüpp und gelangten bald auf einen ausgetretenen Pfad. Zu beiden Seiten … gewahrte Proska entwurzelte Baumriesen, zuversichtliche Haselnußgerten und starkes Unkraut. Reine, makellose Wildnis, ein Flecken Erde, an dem keine menschliche Hand Veränderungen vorgenommen hatte. Selbst der Tod hatte Mühe, hier hindurchzuschlüpfen; wenn er ein Leben versengte, wuchsen ihm tausend neue entgegen…(S. 51)
Und Gott ist auch noch da, wenn auch nur eine schwache Hoffnung:
Eine Sternschnuppe sauste über den Himmel. Gottes Wurfgeschoß. Er ließ es aus seiner Hand fahren, um den wenigen, die forschend zu Ihm aufsahen, geheimnisvoll anzudeuten, dass sie ihr Suchen in aufmerksame Geduld fassen mögen und daß Er da sei und ihre Sehnsucht zu Ihm zwar begreife, aber sich nicht ihren Blicken stellen könne. Damit aber die Schmerzen, die ihnen das Forschen bereite, gelindert und gekühlt würden, strengte er Seine Hand zum Wurf an und ließ sie weiter hoffen. (S. 44)
Aber das Leben, das unter dem Himmel und in der Natur gelebt wird, ist dem Tod sehr nahe. Da ist nichts mehr heilig. Ein Krug voller Asche, in dem Dynamitpatronen versteckt sind. Da laufen Männer mit Gewehren durch den Wald, die Finger am Abzug, und ob sie schießen oder nicht, das entscheidet sich in Sekunden. Proska begegnet nach einem friedlichen Stündchen mit seiner Wanda einem Partisanen. Gerade hat er sich noch wie ein leiser, redlicher Bürger gefühlt, gerade hat er den Krieg für einen Moment vergessen -
… Krieg: das ist das grausam lächerliche Abenteuer, in das sich Männer einlassen, wenn sie der Hafer des Wahnsinns sticht, die Tage, da Nachsicht und Geduld rar werden…. (S. 161)
- Da sieht er den bewaffneten Partisanen,
… friedvoll und ahnungslos … Es war ein Zivilist. … Er hatte so ganz und gar nichts Kriegerisches an sich und er passte so wenig in Proskas Vorstellungen vom Krieg, dass dieser … ungeduldig, ja wütend wurde.
Er führt einen stummen Dialog mit dem Mann, den er erschießen müsste, wenn er ihm näher käme:
Es ist Krieg, du, noch jedenfalls. Ich kann nichts dafür, wenn ich gleich abdrücke. Du musst das einsehen; wir gehören jetzt zusammen, du, auf den mein Lauf zeigt, mußt der erste sein, der mir vergibt, du allein, denn du bist der einzige, der mich verstehen kann. Warum denkst du nicht auch an mich? Glaubst du, mir fällt es leicht? Komm nicht näher, heran, du. Uns beide verbindet ein Geheimnis. Warum kehrst du nicht um! Ich liebe dich nicht, du, aber ich hasse dich auch nicht. Ich darf dir nichts zurufen, denn dann hätte ich vielleicht alles verloren. Wer weiß, was du getan hast. (S. 162f)
Der junge Mann, der sich eine Blume in die Brusttasche gesteckt hat, und den Himmel betrachtet, kommt immer näher. Nach der Logik des Krieges muss Walter Proska ihn erschießen, damit er selbst nicht erschossen wird. Und er tut es.
Aber die Fronten lösen sich auf, der Wahnsinn greift um sich, Sterben und Tod, sinnlos und qualvoll. Es gibt keine klaren Linien mehr. Wo in diesem heißen Wald, den alle durchstreifen, liegt die Grenze, die man verteidigen oder überrennen könnte?
Als Proska in die Hände der Partisanen fällt, fällt auch die letzte Grenze. Gefangen und von seinem Bewacher mit Alkohol abgefüllt, im Glauben, sein Bewacher verstünde ihn nicht, will Walter Proska seinen Bewacher umarmen:
Bogumil … komm her, Menschenskind, laß Dich einmal nur umarmen. Wir sind doch Brüder, du und ich. Wir sind doch aufeinander angewiesen. Du bist hier, weil ich hier bin, und ich bin hier, weil du hier bist. Du hast mir deinen Fusel geschenkt, wir werden uns nie mehr etwas tun! Ich werde dich nicht erschießen und du wirst mich nicht erschießen. Das Theater ist doch aus, warum stößt du mich immer wieder zurück, he!
Bogumil aber hat alles verstanden und ist sehr zornig:
Sobald ihr besiegt seid, wollt ihr Brüder sein. Das kennen wir. Erst wenn ihr Gnade braucht, wenn euch das schmutzige Leben teuer wird, wenn ihr Angst bekommt, dann redet ihr von Brüderlichkeit. Solange ihr die Herren seid, sch…. ihr auf Demut und Barmherzigkeit. … Du glaubst, ich sei blöde … Brüder: Das sagen immer die, die verloren haben. Es gibt keine abscheulichere Art der Buße auf der Welt. Man sagt: Bruder, und alles ist vergessen, wie? Hättest Du auch Bruder zu mir gesagt, wenn du die Maschinenpistole gehabt hättest? … Du hättest es gewiss nicht gesagt. (S. 230)
Walter Proska trifft dann einen seiner deutschen Kameraden, Wolfgang, genannt Milchbrötchen. Wolfgang ist desertiert und hat sich den Partisanen angeboten.
Zur Erklärung sagt er:
Ich habe mich ihnen angeboten. Vielleicht nehmen sie mich… Der untätige, der passive Pazifismus ist ein impotentes Gespenst. Wer nur immer sagt, ich bin gegen den Krieg und es dabei bewenden lässt und nichts außerdem tut, damit der Krieg ausgerottet wird, der gehört ins pazifistische Museum. Wir müssen zu einer Form des aktiven Pazifismus kommen… Wenn wir zu einem festlichen Leben gelangen wollen, muss schon ein aktives Leben in Kauf genommen werden. Wer kontrolliert denn die Werte der Welt? Du allein… (S. 237)
Sei doch mal ehrlich: Wenn wir hier im Sumpf geboren worden wären, wären wir heute auch Partisanen. – Aber waren wir nicht immer schon immer Partisanen? Haben wir nicht alle eine Neigung, im Illegalen das Legale zu sehen? … (S. 239)
Im Gespräch mit ihm, den er zunächst als Judas, als Verräter beschimpft, erkennt Walter Proska, was er tun muss. Die beiden sind sich nahe gekommen.
So nah waren sie sich, dass sie den anderen für sich selbst hätten nehmen können. Gute Kameraden. (S. 240)
Und so wechselt Walter Proska die Fronten:
Wolfgang, wir bleiben zusammen. Du kannst auf mich rechnen. (S. 240)
Damit ist der Roman nicht zu Ende. Die Geschichte von Walter Proska geht noch weiter.
Am Ende spricht der Erzähler Proska direkt an:
Du hast das, was geschehen ist, verursacht. Es gibt kein Handeln ohne Leid, du hast gehandelt, wie du glaubtest, handeln zu müssen. Du hast nicht brachgelegen. Dein Gewissen peitschte dich immer nach vorn. Hinten wird unwesentlich gehandelt. Das Wesentliche geschieht immer vorn. (S. 336)
Siegfried Lenz hat diesen Roman als junger Mann geschrieben. 1952 vermutlich im Januar übergibt er das mehrfach überarbeitete Manuskript mit dem Titel „Der Überläufer“ dem Verlag. Es wäre sein zweites Buch geworden. Aber der Verlagsleiter will den Roman so nicht veröffentlichen; ein Roman mit einem Überläufer der deutschen Wehrmacht zu der russischen Roten Armee ist in der Adenauer-Ära, der Zeit des beginnenden kalten Krieges, einfach undenkbar. Er verlangt eine grundlegende Überarbeitung des Materials, denn:
„… der Roman müsste tatsächlich den Titel ‚Der Überläufer‘ tragen – und das wäre unmöglich. Ein solcher Roman hätte 1946 erscheinen können. Heute will es bekanntlich keiner mehr gewesen sein …Sie können sich maßlos schaden, da helfen Ihnen auch Ihre guten Beziehungen zu Presse und Funk nicht. … (S. 347 im Nachwort „Entstehung“)
Siegfried Lenz weigert sich, die grundlegenden Überarbeitungen vorzunehmen. So verschwindet das Manuskript in seinem persönlichen Archiv. Ein halbes Jahr vor seinem Tod im Oktober 2014 hat Siegfried Lenz sein Archiv dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach übergeben. Dort wird der Roman gefunden und posthum veröffentlicht.
Musikalisches Zwischenspiel
Ansprache
Der Überläufer. Einer läuft über. Wechselt die Seiten. Wenn etwas überläuft, dann war es zu viel. Was ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt?
So lange ist er durch die Welt, durch den Krieg, durch den Wald gelaufen. So viel Tod. So viel Angst. Zu viel Tod. Zu viel Angst. Die Fronten und die Gesetze des Krieges lösen sich im Chaos auf. In der reinen, makellosen Wildnis begegnen diese jungen Männer sich selber, ihren eigenen Grenzen. Und sie begegnen ihren Feinden. Sie begegnen ihren Brüdern. Wer ist eigentlich mein Bruder? Wer ist mein Feind? Warum soll der junge Mann, der in den Himmel träumt und sich eine kleine gelbe Blume in die Brusttasche gesteckt hat, sterben?
Wanda, das schöne junge Mädchen mit dem roten Haar und den grünblauen Augen – auch sie gehört auf die andere Seite. Aber die Liebe kennt keine Seiten.
Du bist ein Judas, sagt Walter zu Wolfgang. Du bist ein Verräter. Und dann wird er selber ein Überläufer. Ein Verräter. Aber es fühlt sich nicht so an. Und es verändert sich auch gar nicht viel. Schuldig werden diese jungen Männer auf allen Seiten. Sie müssen töten. Sie müssen ihre Pflicht tun.
Was für ein Gedanke: Soldaten sind alle Brüder. Brüder in der Schuld, Brüder des Gewissens. Alle haben Angst. Alle haben Heimweh. Alle haben Träume. Alle haben Sehnsucht.
Überläufer haben keine Feindbilder mehr. Keine Feinde. Nur noch Brüder.
Soll ich meines Bruders Hüter sein, fragt Kain. Das ist ziemlich frech. Abel ist schon tot. Ja, sagt Gott, Du solltest Deines Bruders Hüter sein. Nicht sein Mörder.
Der junge Siegfried Lenz schreibt die Geschichte eines jungen Mannes, der die Seiten wechselt. Es war übergelaufen, das Maß aller Dinge. Es war zu viel. Er kennt keine Seiten mehr. Er erkennt die Seiten nicht mehr. Er kennt nur noch Brüder. Und er hat Sehnsucht nach Wanda. Und er weiß so tief und bitter, dass er schuldig geworden ist. Dagegen hilft kein Überlaufen. Sein Gewissen hat ihn nach vorne gepeitscht, er hat gehandelt und wer handelt, wird schuldig. Aber immerhin ist er seinem Gewissen gefolgt und nicht mehr irgendwelchen absurden Befehlen.
Der Roman nimmt ja noch einige Wendungen nach dem Seitenwechsel.
Walter Proska muss mit seinem Gewissen, seinen Entscheidungen und deren Konsequenzen leben. Damit müssen wir alle leben. Aber die Schuld liegt nicht darin, überzulaufen. Die Seiten zu wechseln.
Denn in Wahrheit gehören sie zusammen, der Soldat und der Partisan: Ich kann nichts dafür, sagt Walter Proska in diesem stummen Dialog, wenn ich gleich abdrücke. Du musst das einsehen; wir gehören jetzt zusammen, du, auf den mein Lauf zeigt, musst der erste sein, der mir vergibt, du allein, denn du bist der einzige, der mich verstehen kann. Warum denkst du nicht auch an mich? Glaubst du, mir fällt es leicht? Komm nicht näher, heran, du. Uns beide verbindet ein Geheimnis. Warum kehrst du nicht um! Ich liebe dich nicht, du, aber ich hasse dich auch nicht.
Von diesen Sätzen ist der Weg auf die andere Seite nicht mehr weit. Ist das nicht ihr Geheimnis, dass sie Brüder sind? Ist es nicht ihr Geheimnis, dass sie viel mehr verbindet als sie trennt?
Du musst mir vergeben. Wie ich dir vergeben muss. Wir müssen uns vergeben, so vergibt Gott unsere Schuld. Und dass er Dir und mir vergibt, das verbindet uns. Uns verbindet unser gemeinsames Angewiesensein auf diese Vergebung. Uns verbindet die Schuld so sehr wie die Vergebung. Wir stehen alle auf einer Seite.
In einem Gespräch im zweiten Teil des Romans sagt Walter Proska zu einem, der sich durch ein Fenster unangenehm beobachtet fühlt und das Verdunklungsrollo schließt:
Gott sieht auch durch das Verdunklungsrollo. (S. 326)
Gott, der seine Sternschnuppe schickt, damit es noch Hoffnung gibt und die, die auf ihn warten, nicht aufgeben, sieht.
Er sieht genau, was sich hinter dem Verdunklungsrollo abspielt. Er sieht die Schuld, er sieht die Gewalt. Er sieht die Brüder, die sich töten. Er sieht uns, wie wir ringen mit unserem Gewissen, um den richtigen Weg, um Frieden. Gott sieht die, die überlaufen. Aber Gott kennt keine Seiten.
Gott sieht auch durch das Verdunklungsrollo, das wir schließen vor den Fenstern unserer Seele. Er hört, wenn wir bitten:
Sei mir gnädig nach deiner Güte und tilge meine Sünden nach deiner großen Barmherzigkeit.
Was macht Gott eigentlich mit Kain, dem Brudermörder? Er sagt zu ihm: Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde!
Kain wird vogelfrei und heimatlos, denn der Acker, auf dem das Blut des Bruders vergossen wurde, kann nicht mehr sein Lebensmittel und seine Heimat sein. Aber Gott lässt ihn nicht vogelfrei herumirren in der Welt. Er macht ein Zeichen an Kain, dass niemand ihn erschlüge, der ihn fände. (1. Mose 4, 15).
Das Kainszeichen ist nicht ein Schandmal, nicht ein Zeichen für einen, der ausgestoßen ist von den Menschen. Das Zeichen des Kain ist ein Schutz. Ich sehe Deine Schuld. Ich sehe das Blut, das fließt. Ich höre, wie das Blut schreit, sagt Gott. Dennoch gebe ich Dich nicht verloren. Du Brudermörder sollst keinem Mord zum Opfer fallen, sondern leben.
Du musst das einsehen, sagt Walter Proska zu seinem Feind, zu seinem Bruder: Wir gehören jetzt zusammen. Wir gehören schon immer zusammen, wir Schwestern und Brüder. Wir Geschwister dieser Erde.
Amen.
Lied: KAA 075 Wo Menschen sich vergessen
Glaubensbekenntnis / Fürbitte / Vater unser / Segen
Glaubensbekenntnis mit Worten Dietrich Bonhoeffers
Ich glaube,
dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will.
Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen.
Ich glaube,
dass Gott uns in jeder Notlage soviel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen.
Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst,
sondern allein auf ihn verlassen.
In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein.
Ich glaube, dass auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind, und dass es Gott nicht schwerer ist, mit ihnen fertig zu werden, als mit unseren vermeintlichen Guttaten.
Ich glaube, dass Gott kein zeitloses Schicksal ist,
sondern dass er auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten wartet und antwortet.
Dietrich Bonhoeffer
Lied: EG 430 Gib Frieden, Herr, gib Frieden
Oder:
EG 416 Mach mich zu einem Werkzeug Deines Friedens
EG 421 Verleih uns Frieden gnädiglich
EG 433 Kanon Hevenu shalom alejchem
EG 434 Shalom chaverim
Fürbittengebet
Großer, barmherziger Gott, du bist das Leben und Du bist der Frieden.
Du hast uns nach Deinem Bild geschaffen, auf dass wir wie Brüder und Schwestern miteinander leben.
Wir danken Dir für die Gabe, uns auszudrücken, uns zu verständigen, uns in Worten der Dichter wieder zu finden. Wir denken vor Dir an alle Schriftsteller und Schriftstellerinnen dieser Welt, die Unrecht leiden müssen, weil sie Worte schreiben, die den Diktatoren dieser Welt nicht gefallen.
Wir beten und singen:
Alle: Kyrie eleison (EG 178.9)
Gott, wir bitten Dich um Frieden für diese Welt. Wir bitten Dich besonders für die Menschen in Aleppo (ggf. aktualisieren), deren verzweifelte Lage uns hilflos und zornig macht.
Gott, wir bitten Dich für alle, die sich eingesperrt haben in Feindbildern, in Verachtung und Feindseligkeit. Befreie sie und weite ihre Gedanken.
Wir bitten Dich, stärke alle, die daran arbeiten, diese Welt friedlicher, gerechter und heller zu machen. Sende ihnen Deine Sternschnuppen.
Wir beten und singen:
Alle: Kyrie eleison (EG 178.9)
Gott, wir bitten Dich für alle, die zornig sind und ungeduldig, die verzweifelt sind und keine Hoffnung mehr haben. Wandle Zorn in Mut, Ungeduld in Tatkraft, Verzweiflung in Hoffnung.
Wir bitten Dich für alle Menschen auf der Welt, die auch heute ihre Heimat verlieren, weil sie auf der Flucht sind vor Hunger, Gewalt und Ungerechtigkeit. Halte sie in Deiner Hand.
Wir bitten Dich, führe uns auf den Weg der Versöhnung, schenke uns Mut.
Wir beten und singen:
Alle: Kyrie eleison (EG 178.9)
Wir beten in der Stille.
Dann: wir beten und singen:
Alle: Kyrie eleison (EG 178.9)
Gemeinsam beten wir:
Vater unser
Lied: EG 170 Komm, Herr, segne uns
Segen:
Gott, der Barmherzige, segne uns und behüte uns
Gott führe uns zu Versöhnung und Frieden
Gottes Friede, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.