„Die souveräne Leserin“ von Alan Bennett

Gottesdienst mit einem Plädoyer für Literatur und Lesen
Autor: Pfarrer Gerson Monhof
Mitwirkende: Büchereiteam - Querflöte: Tanja Kreiskott – Orgel: Christina von Eynern – Bläserkreis
Gottesdienst zum Literatursonntag, 1. November 2009 in der Ev. Kirchengemeinde Elberfeld-Südstadt – Johanneskirche zu Alan Bennett: Die souveräne Leserin. Aus d. Engl. von Ingo Herzke. Berlin: Wagenbach 2008. 114 S. ISBN 978-3-8031-1254-5. € 14,90
Literaturgottesdienst zu "Die souveräne Leserin" Druckversion PDF
Übersicht/Ablauf
Lieder
EG 452,1.2.5: Er weckt mich alle Morgen
EG 592,1-3: Wort, das lebt und spricht
EG 395,1-3: Vertraut den neuen Wegen
EG 171,1-4: Bewahre uns Gott
Eröffnung und Anrufung
Musik zum Eingang
Begrüßung
Lied EG 452,1.2.5: Er weckt mich alle Morgen
Pfarrer: Der Herr sei mit Euch
Gemeinde: Und mit deinem Geist!
Pfarrer: Aus Psalm 119
Gemeinde: Ehr sei dem Vater ...
Pfarrer: Gebet
Gemeinde: Herre Gott, erbarme dich ...
Pfarrer: Gnadenspruch
Gemeinde: Und Frieden auf Erden ...
Inhaltsangabe
„Die souveräne Leserin“
Querflötenmusik
Bibellesung
Apostelgeschichte 8,26 – 40
Lied EG 592,1-3: Wort, das lebt und spricht
Predigt
mit vier Zitaten aus „Die souveräne Leserin“ Lied EG 395,1-3: Vertraut den neuen Wegen
Kanzelabkündigungen / Fürbitte / Vater unser
Lied EG 171,1-4: Bewahre uns Gott
Abkündigungen
Segen
Musik zum Ausgang: Querflötenmusik
Eröffnung und Anrufung
Musik zum Eingang
Begrüßung:
- mit Hinweis auf die besondere Prägung und Gestaltung des Gottesdienstes
- Benennung der Mitwirkenden
- Benennung des Buches, das eine besondere Rolle spielen soll: „Die souveräne Leserin“ von Alan Bennett. Erschienen 2008 im Wagenbach Verlag.
Lied 452,1.2.5: Er weckt mich alle Morgen
Pfarrer: Der Herr sei mit Euch
Gemeinde: Und mit deinem Geist!
Pfarrer: Aus Psalm 119
89
HERR, dein Wort bleibt ewiglich, soweit der Himmel reicht;
90
deine Wahrheit währet für und für.
103
Dein Wort ist meinem Munde süßer als Honig.
104
Dein Wort macht mich klug;
darum hasse ich alle falschen Wege.
105
Dein Wort ist meines Fußes Leuchte
und ein Licht auf meinem Wege.
107b
HERR, erquicke mich nach deinem Wort!
114
Du bist mein Schutz und mein Schild;
ich hoffe auf dein Wort.
Kommt, lasset uns anbeten!
Gemeinde: Ehr sei dem Vater ...
Pfarrer: Gebet
Herr, ich lese in dem Buch von der souveränen Leserin den Satz: „Wo wir jetzt unter uns sind ...“ Meine Gedanken bleiben hängen, verhaken sich an den Worten ... Sie finden zu Dir: Wir sind jetzt unter uns, Du und ich – in diesem Gebet. Komm in mein Herz. Lass mich Deine Güte spüren und dankbar sein für Deine Gaben. Lass mich meine Freude Dir aufrecht und froh entgegen tragen. Und lass mich auch bei Dir ablegen, was mich beschwert und bekümmert. Lass mich finden, was mich aufrichtet.
Was wäre der heutige Tag ohne dich? Heute ist Sonntag. Was wären alle Tage ohne Dich? Wie unbegreiflich ist Deine Treue! Du gebrauchst unsere dürftigen Gedanken, um uns einzuüben in Deine ewigen Gedanken. Du nimmst unsere Begrenzungen und öffnest sie und stellst unsere Füße auf weiten Raum. Du lässt uns im Lesen von Büchern neue Welten erfahren, die uns immer ein wenig mehr erschließen:
... was Du geschaffen hast,
... was nicht einfach mit Händen zu greifen ist,
... was nicht immer so einfach auf der Hand liegt,
... was hintergründig ist,
... was der Sensibilität bedarf.
Du lässt uns in der Kunst Eindrücke und Ausdrücke von Mensch zu Mensch erfahren, Mitteilungen, die nur Bilder ausdrücken können.
Du schenkst uns in der Musik die Töne und die Zwischentöne, die unsere Gefühle ansprechen und uns unser Leben spüren lassen mit all seiner Freude, seiner Sehnsucht, mit seiner Melancholie.
Wie weitet sich die Welt, wenn Deine Gabe der Kulturfähigkeit in uns gereift ist, dass wir sie leben können! Wir danken Dir für alle Weisen des Erspürens des Lebens, für die Möglichkeit, unser Leben zu finden in den Spiegelbildern von Literatur, Kunst, Musik.
Wir lassen diese Fähigkeiten oft ungenutzt oder sogar verkümmern, schulen uns nicht in ihnen. Warum? Wir sehen nur auf die vermeintlich praktischen Dinge und nehmen uns keine Zeit. Warum? Wir finden so auch kaum zu unseren Nächsten. Das muss nicht sein.
Herr, lass uns wachsen in unseren Fähigkeiten und Möglichkeiten, wachsen auf unsere Mitmenschen zu und wachsen im Glauben an Dich.
Wir bitten Dich, erbarme dich unser!
Gemeinde: Herre Gott, erbarme dich ...
Pfarrer:
Gnadenspruch
Erbarme dich, Herr, meiner Leere
Schenk mir das Wort, das eine Welt erschafft
Ehre sei Gott in der Höhe!
Gemeinde: Und Frieden auf Erden ...
Inhaltsangabe
Inhaltsangabe „Die souveräne Leserin“
Was sind Bücher? Was bedeutet es, Bücher zu lesen? Der kurze Roman „Die souveräne Leserin“ ist eine Schatzkiste voller Argumente für‘ s Lesen. Darum ist er in besonderer Weise geeignet, in einem Gottesdienst an einem Literatursonntag hervorgehoben zu werden. Wir möchten als erstes seinen Inhalt vorstellen: - Inhaltsangabe -
Querflötenmusik
Bibellesung
Bibellesung
Welche biblische Geschichte passt am ehesten zu der „souveränen Leserin“? – Das Team der Bücherei entschied sich für den „Kämmerer aus dem Morgenland“. Der bekam Anleitung vom Apostel Philippus, damit er Gewinn ziehen konnte aus dem, was er las. Die Queen benötigte auch eine Hilfestellung: bei ihr war der Helfer der Küchenjunge Norman Seakins.
Ich lese aus der Apostelgeschichte 8 die Verse 26 - 40
26 Aber der Engel des Herrn redete zu Philippus und sprach: Steh auf und geh nach Süden auf die Straße, die von Jerusalem nach Gaza hinab führt und öde ist. 27 Und er stand auf und ging hin. Und siehe, ein Mann aus Äthiopien, ein Kämmerer und Mächtiger am Hof der Kandake, der Königin von Äthiopien, welcher ihren ganzen Schatz verwaltete, der war nach Jerusalem gekommen, um anzubeten. 28 Nun zog er wieder heim und saß auf seinem Wagen und las den Propheten Jesaja.
29 Der Geist aber sprach zu Philippus: Geh hin und halte dich zu diesem Wagen! 30 Da lief Philippus hin und hörte, dass er den Propheten Jesaja las, und fragte: Verstehst du auch, was du liest? 31 Er aber sprach: Wie kann ich, wenn mich nicht jemand anleitet? Und er bat Philippus, aufzusteigen und sich zu ihm zu setzen. 32 Der Inhalt aber der Schrift, die er las, war dieser (Jesaja 53,7-8): »Wie ein Schaf, das zur Schlachtung geführt wird, und wie ein Lamm, das vor seinem Scherer verstummt, so tut er seinen Mund nicht auf. 33 In seiner Erniedrigung wurde sein Urteil aufgehoben. Wer kann seine Nachkommen aufzählen? Denn sein Leben wird von der Erde weggenommen.« 34 Da antwortete der Kämmerer dem Philippus und sprach: Ich bitte dich, von wem redet der Prophet das, von sich selber oder von jemand anderem? 35 Philippus aber tat seinen Mund auf und und predigte ihm das Evangelium von Jesus.
36 Und als sie auf der Straße dahinfuhren, kamen sie an ein Wasser. Da sprach der Kämmerer: Siehe, da ist Wasser; was hindert's, dass ich mich taufen lasse? 37 [siehe Anmerkung Vers 36] 38 Und er ließ den Wagen halten und beide stiegen in das Wasser hinab, Philippus und der Kämmerer, und er taufte ihn. 39 Als sie aber aus dem Wasser heraufstiegen, entrückte der Geist des Herrn den Philippus und der Kämmerer sah ihn nicht mehr; er zog aber seine Straße fröhlich. 40 Philippus aber fand sich in Aschdod wieder und zog umher und predigte in allen Städten das Evangelium, bis er nach Cäsarea kam.
Lied 592,1-3: Wort, das lebt und spricht
Predigt
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen.
Liebe Gemeinde,
wir wollen mit diesem Gottesdienst das Lesen als ein besonders wertvolles Kulturgut hervorheben. Dies gilt gerade im Blick auf den christlichen Glauben, der wohl kaum ohne Lektüre von Büchern und natürlich insbesondere der Bibel auskommen kann. Dem, dem das Lesen noch nicht nahe ist, möchten wir es als einen besonderen Wert für das eigene Leben nahe bringen.
Die, die viel und gerne lesen, werden im Folgenden manches Erlebte wiederfinden. Lesen ist im seelsorgerlichen Sinne Lebenshilfe, so hatte es jedenfalls die Queen erfahren. Ihr Leben hatte sich dabei erheblich verändert. So kann es aber jede und jeder erfahren und sich verändern. Literatur und Lesen sind also nicht einfach etwas Schöngeistiges, sondern haben sehr praktische Folgen.
Wir fragen also: Welche Bedeutung kann das Kulturgut Literatur und Lesen für einen Menschen haben? Mit dieser Fragestellung nehmen wir das Buch „Die souveräne Leserin“ zur Hand und versuchen von ihm her Antworten zu geben.
[Antwort 1 Freiheit]
Zitat 1 (Mitarbeiterin der Bücherei) „Der Reiz des Lesen lag in seiner ... konnte sie unerkannt umherschweifen.“ (S. 31)
Liebe Gemeinde, ich verstehe dieses Zitat so: Die Bücher, die ganze Literatur, stehen bereit; sie sind wie eine Welt aus einzelnen Länder, jedes Buch ein anderes Land. Die Queen vergleicht sie mit dem Commonwealth, dessen Oberhaupt sie ist.
Wenn wir in fremde Länder reisen, wissen die Menschen dort über uns zunächst nichts; und wir kennen diese wiederum nicht. Wir sind, wenn man so will, ‚neutrale‘ Menschen. Denn unser Status, den wir zu Hause haben – egal ob arm, ob reich -, zählt nicht, da er unbekannt ist. Unsere äußeren Lebensverhältnisse sind ausgeblendet. Unsere Welt, all ihre Zwänge und Verbindlichkeiten spielen zumindest für eine Weile keine Rolle. Man kann sogar sagen, dass wir anonym unterwegs sind, denn allenfalls im Hotel weiß man etwas über uns, nachdem wir eingecheckt haben. Und so geht es allen Reisenden. Darin sind sie alle gleich - die die mit uns unterwegs sind und auch die uns fremden Touristen, die wir hier und da treffen mögen.
So machen uns auch die „Länder der Bücher“ gleich, bevor wir sie betreten, also lesen.
Wir sind so gleich vor den Büchern, wie wir gleich sind, wenn wir auf diese Welt kommen, so gleich, wie wir vor Gott sind.
Die Bücher betreiben aber nicht einfach Gleichmacherei, sondern sie geben, obwohl es ihnen egal ist, wer sie liest, eine Chance.
Sie wollen, dass wir offen, frei und unbelastet „umherschweifen“ können und uns einlassen können auf das, was Landschaft, Kultur und Wesen des Landes uns bieten. Dass wir umherfahren, uns die Landschaft erwandern, die Straßen der Städte durchziehen und uns die jeweiligen Gegebenheiten und die Schönheiten ansehen können. Erst, wenn wir alles losgelassen haben, entfalten sie sich vor uns und erschließen sich uns. So erst können wir uns einlassen auf die Menschen, denen wir begegnen, und spüren, wo ihr Herz schlägt. Denn Vorbehalte gibt es zunächst jedenfalls nicht.
So geht es uns, wenn wir uns auf Literatur einlassen: wir werden gleichgestellt. Und wir verlassen als einfache Menschen ohne Standes- oder andere Unterschiede die Welt, in der wir leben, und werden frei, entführt und entrückt zu werden. Es ist ein großes Geschenk eines Buches, wenn es uns erst einmal auf die Füße stellt, uns aller Verpflichtung und engen gesetzlichen, starren Denkmustern enthebt und uns „einebnet“ und damit den Weg zu Neuem ermöglicht.
Wenn wir bei der Lektüre alles hinter uns lassen, dann sind wir solche Beschenkten. Das ist die Entdeckung aller Lesenden, auch darin sind sie alle gleich, die sich auf das Neuland eines Buches einlassen: hinter sich lassen, und darum neue Welten entdecken. -
Ich frage also direkt: Was sind unsere Lebensvoraussetzungen? Und wie beeinflussen sie uns? Halten sie uns an der Leine – wie die Queen -, dass wir daneben nichts kennen. Versperren sie uns Perspektiven bzw. die Möglichkeiten, Perspektiven zu entdecken, dass wir die Welt und uns selbst noch einmal anders und neu erobern können?
Ist es so? Dann greifen wir doch einfach zu einem Buch!
[Antwort 2 Neuanfänge] Zitat 2 (Mitarbeiterin der Bücherei) Die Queen möchte ihre Weihnachtsansprache mit einem Gedicht ihrer Wahl beginnen; damit ist der Premierminister jedoch nicht einverstanden. „Zu ihrer eigenen Überraschung bekam die Queen ... der Neuanfang war ihr eigener.“ (S. 56)
Liebe Gemeinde, das öffentliche Lesen zu verschiedenen Gelegenheiten --
Weihnachtsansprache, Bibellesungen in der Kirche, Grundschule, Bankett, Abschluss einer feierlichen Baumpflanzung - markiert für die Queen ihren Neuanfang. Es ist das Äußere, das für andere und für sie selbst Beobachtbare, an dem alle erkennen, dass mit ihr, in ihrer Seele etwas anders geworden ist.
Das müssen wir dem Lesen lobend zu Gute halten. Es greift tief ins Leben ein. Es belässt uns nicht mit einer Fantasie. Es war mal ganz nett, die Geschichte gelesen zu haben. Sondern mit der Eroberung neuer Welten verändern wir uns selbst. Die Queen nahm auf Zeitabläufe, das Protokoll des Hofes, Planungen, ja Standesunterschiede immer weniger Rücksicht; sie wurde frei von der Erstarrung des höfischen Zeremoniells hin zur Zuwendung zu Menschen und zu sich selbst. Ich möchte sagen: Lebensweisheit hatte sie ergriffen.
Damit müssen wir rechnen, dass das geschieht, wenn wir uns auf die Literatur einlassen. Da bleibt womöglich kein Stein auf dem anderen. Was gestern noch galt, stimmt dann heute oder morgen nicht mehr. Lesen hinterlässt Menschen mit Horizonten. Lesen hinterlässt Menschen mit Herzen. An ihren Früchten sind sie zu erkennen.
Und die Lektüre selbst ist es, die uns bewusst macht, dass etwas mit uns anders wird. Bei der Queen war es dieses Gedicht über die Kronen der Bäume, die jedes Jahr neu ausschlagen: „Ihr Leben rief sie vor Augen, der Neuanfang war ihr eigener.“
[Antwort 3 Fortschritte machen]
Zitat 3 (Mitarbeiterin der Bücherei) „Sie bestellte weiterhin Bücher ... eifrigeren Leser gesehen hatten.“ (S. 71)
Nun also, liebe Gemeinde, wird an der immer intensiveren Nutzung der verschiedenen Bibliotheken durch die Queen deutlich, wie Lesen nach immer weiterem Fortschreiten sucht. Es müssen immer mehr Bücher herbeigeschafft werden. Der Wissendurst ist nicht zu stillen. Der Drang fortzuschreiten, ist kaum zu zügeln.
Ich verstehe das so, dass, ist ein Leser durch die Lektüren erst einmal mit seinem Leben, wirklich mit dem eigenen Leben, konfrontiert, hat er es gefunden, oder hat er eigene Wesenszüge gefunden, will er unweigerlich mehr über sich erfahren: mehr über das, was die eigene Person angeht, mehr aber auch, was über die eigene Person im Verhältnis zu anderen Menschen in Erfahrung gebracht werden kann. So führt das Lesen in immer höherem Maße zur Soziabilität des Menschen.
Dies wird deutlich daran, dass der steigenden Anzahl der Ausleihen aus den verschiedenen Bibliotheken der Lebensfortschritt der Queen, oder allgemeiner des Lesers bzw. der Leserin entspricht. Die Bücher wirken ja. Die geschriebenen Zeilen, die gelesen werden, bleiben nicht einfach im Buch. Schön der Satz: „Im Verlauf der Klassikerlektüre versöhnte sie sich sogar wieder mit Henry James, dessen Abschweifungen sie inzwischen leichter ertrug.“ Hier wird greifbar, wie z.B. gelassen die Erfahrung der Bücher machen kann.
Mit dieser diese Bemerkung gehen wir zu einem weiteren Zitat über, dem wir entnehmen können, wie die Fortschritte bei der Lektüre einzelner Bücher erkennbar wird.
Zitat 4 (Mitarbeiterin der Bücherei) Eines Nachts erwachte die Queen in den frühen Morgenstunden und konnte nicht mehr schlafen. „ Sie hatte ein Buch über die Brontè Schwestern ... unsentimental, streng, weise.“ (S.95) Später schrieb sie in ihr Notizbuch: Man legt sein Leben nicht in seine Bücher. Man findet es in ihnen.“ (S.97)
Wie feinsinnig ist die Queen geworden, wie empfindsam. Wie kann sie Zwischentöne hören und zwischen den Zeilen lesen. Wie erschließt sich ihr jetzt die Welt der Nuancen, der Feinheiten und Sensibilitäten. Menschwerdung, so möchte ich es nennen. Das Grobe abgestreift, das Eckige hinter sich gelassen, das Plakative aufgegeben, dafür das Sensitive gestärkt, das Weiche, das Zarte empfindend. Leben! Das ist Leben mit allen dem Menschen möglichen Empfindungen. -
M.E. findet sich der Kernsatz des ganzen Buches „Die souveräne Leserin“ auf Seite 97. Die Queen hatte sich angewöhnt, sich Notizen zu ihren Lektüren zu machen, so auch eines Abends, als sie bereits im Bett lag. Da heißt es: „Sie knipste das Licht wieder an und schrieb in ihr Notizbuch: Man legt sein Leben nicht in seine Bücher. Man findet es in ihnen.“
Man findet sein Leben in seinen Büchern. So ist die Bewegung. Vom Buch zu mir. Ich lese zwar. Aber das Buch spiegelt mir mein anderes, mein wesentliches Leben. Wohl jedes Buch nur einen oder wenige Aspekte. Und nie bin ich zu Ende bei der Entdeckung meines Lebens. Aber gewiss bin ich, dass die erstarrte Lebensform ohne Lektüre wenig Lebendigkeit besitzt und meine Gedanken fahl und stumpf und uninteressant macht und immer wieder gleich aussehen lässt, was andere auch bemerken. Mein guter Dialogpartner, der mir spiegelt, wer ich bin, und was mein Wesen ausmacht, meine Individualität, meine Interessen, meine Meinungen, meinen Willen, das ist die Literatur, die den Blick öffnet und weitet und immer wieder mit jedem Buch, mit jeder Zeile, möglicherweise mit jedem Wort mir sagt: Das bist du! So bist du! Oder aber auch anderes herum: der bist du nicht! -
Wenn dies für ein Buch ganz besonders gilt, dann ist das die Bibel! In ihr sind viele, viele Länder zu finden, viel mehr als der Commonwealth besitzen kann. Alles zu finden im Buch der Bücher; alle menschlichen Situationen, Hass und Liebe, Streit und Versöhnung, Angst und Freude, Verzweiflung und Mut. Hier finden wir unser Leben in den Situationen der Menschen, von denen die Rede ist.
Und so kann es uns, wenn wir Bibel lesen, damit genauso gehen, wie mit einem anderen Buch. Dass wir auf den Boden der Gleichheit gestellt uns vergessen, zu Neuanfängen ermutigt und befähigt werden, dann auch Fortschritte im Lesen machen, so dass auch zunächst als schwierig empfundene Stellen sich unserem Verstand und unserem Herzen öffnen. So wachsen wir als Menschen.
Die Bibel kann tatsächlich gelesen werden wie jedes andere Buch auch. In ihr finden sich übrigens auch die verschiedensten Literaturgattungen: Erzählungen, Gedichte, Lieder ...
Doch in der Bibel findet der Leser oder die Leserin sein, ihr Leben noch in ganz anderer Weise. Sie öffnet uns für etwas, was die sonstige Literatur nicht oder nur bedingt vermag, d.h. worauf sie uns nur verweisen kann. Dass nämlich unser Leben ein von Gott Getragenes ist, dass wir als Menschen in unserer Art zu leben, Gott vergessende und somit Verlorene sind, Gott uns aber durch Jesus Christus in seiner Liebe frei gemacht hat, dass wir wir selbst sein können, frei für unsere Mitmenschen, frei für ihn selbst.
Martin Luther hat genau darum die Bibel übersetzt und in die Hand eines jeden gegeben, damit alle diese Entdeckung machen können.
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle unsere menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
Abkündigungen/Fürbitte/Ausgang
Lied 395,1-3: Vertraut den neuen Wegen
Kanzelabkündigungen
Fürbitte
Herr, unser Gott, lieber Vater im Himmel,
„Lesen, dafür braucht man so viel Zeit.“ „Lesen bringt mich nicht weiter.“ -
Unterschiedlich sind die Urteile, die wir über das Lesen fällen. Es kommt ganz darauf an, in welcher Situation wir uns befinden, wie angespannt wir sind, oder ob wir frei sind, uns die Zeit und die Ruhe gönnen zu können.
Herr, lass es nicht nur ein Zeitvertreib sein, wenn wir zum Buch und zu guter Literatur greifen. Lass uns nicht nur, wenn wir Langeweile haben, einen griffigen Groschenroman zur Hand nehmen. Sondern schenke uns, wenn wir lesen, Lebenserfahrungen und Lebenshilfe, weil sich unser Blick weitet und unsere Sensorik empfindlicher justiert wird.
Wir beten für alle, denen das Lesen verwehrt ist, aus Ignoranz, wegen Analphabetismus. Lass sie doch in Situationen kommen, in denen sie Anteil bekommen an den Bereicherungen, die gute Bücher schenken.
Wir beten für alle, die anderen das Lesen verwehren, weil sie z.B. keine entsprechende Schulpolitik zulassen oder betreiben – vor allem in den vielen Ländern dieser Erde, in denen sich darum eine Grundbildung nicht durchsetzen kann.
Für die Menschen beten wir, die so unmündig gehalten werden und damit abhängig, denen die Freiheit zu denken und zu empfinden und zu tun vorenthalten wird.
Herr, schenke in unsere Bildungswelt hier vor Ort, in unserem Land, dass Soziabilität, Humanität und der Sinn für Gesamtzusammenhänge gewährleistet wird, damit sich unsere Gesellschaft nicht immer mehr gruppiert zu Fachleuten, die etwas von Mathematik, Wirtschaft, Informatik verstehen, aber nicht mehr fächerübergreifend denken oder sogar nichts mehr vom Menschen verstehen.
Herr, wir bitten dich für unsere Gemeinde, lass in ihr das Licht des Lesens leuchten. Lass uns zusammenfinden über das, was uns bewegt, was wir durch Bücher erfahren haben. Wir danken Dir für den Segen, den Du durch die Büchereiarbeit über unsere Gemeinde ausgießt - jetzt schon vierzig Jahre! Lass uns insbesondere durch das Buch der Bücher, durch Dein Wort inspiriert werden und unser Glaube gefestigt.
Wir beten für die Menschen, die von uns gegangen sind. Wir legen Dir die, die um sie trauern, ans Herz. Geh Du mit ihnen den schweren Weg, auf den sie geschickt sind, und verwandle ihre Trauer in dankbare Freude, mit dem geliebten Menschen ein Stück gemeinsam gegangen zu sein.
Wir bitten Dich für die jetzt beginnende Woche um Deine Begleitung. Geh Du mit uns – auch und gerade in die Situationen, vor denen wir Angst haben.
Wir loben Dich und preisen Deinen heiligen Namen.
Amen.
Vater unser
Lied: 171,1-4
Abkündigungen / Segen / Musik zum Ausgang (Querflöte)