„Tannöd“ von Andrea Maria Schenkel

Gottesdienst zu einem Kriminalroman
Autorinnen: Regina Petri und Pfarrerin Katrin Wüst
1. Literaturgottesdienst im Rahmen der Gottesdienstreihe „Andreas um 6“ in der evangelischen Andreas-Kirche in Schildgen zu Andrea Maria Schenkel: Tannöd. Roman. Hamburg: Nautilus Verl. 2006. 125 S. : 20 cm. ISBN 3-89401-479-2, geb.: 12,90 €
Literaturgottesdienst zu "Tannöd" Druckversion PDF
Übersicht/Ablauf
Lieder:
EG 664, 1-3 Wir strecken uns nach dir
EG 278, 1-3 (mit Kehrvers) Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser
EG 278, 6-8 (mit Kehrvers nach Strophe 8) Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser
Möge die Straße (Liederzettel)
Einführung
Musik
Begrüßung
Einführung in das Buch
Lied: EG 664, 1-3 Wir strecken uns nach dir
Lesung: Psalm 43, EG 723 im Wechsel
Gebet
Lied: EG 278, 1-3 (mit Kehrvers) Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser
Lesungen
Das Büchereiteam liest aus „Tannöd“
Predigt
Fürbitten/Segen/Ausgang
Lied: EG 278, 6-8 (mit Kehrvers nach Strophe 8) Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser
Gedicht: die nicht davonlaufen (Carola Moosbach)
Lied: Möge die Straße (Liederzettel)
Segen
Musik
Einführung
Musik
Begrüßung
Einführung in das Buch
Im Mittelpunkt des Gottesdienstes steht der Roman „Tannöd“ von Andrea Maria Schenkel – ein ungewöhnlicher Kriminalroman, der auf tatsächlich geschehenen Ereignissen basiert.
Auf einem abgelegenen Hof in der Oberpfalz werden in den 50er Jahren alle sechs Bewohner ermordet. Stückweise, aus der Sicht der Opfer, verschiedener Dorfbewohner und des Täters erfahren wir von der Geschichte, die zu dieser Tat geführt hat.
Tannöd ist Andrea Maria Schenkels Krimidebüt, für das sie renommierte Preise erhalten hat.
Wir werden uns diesem Buch widmen und versuchen zwischen literarischen und biblischen Text eine Verbindung herzustellen, die uns vielleicht anstößt, in unserem Leben etwas neu in Blick zu nehmen.
Lied: EG 664, 1-3 Wir strecken uns nach dir
Lesung: Psalm 43, EG 723 – im Wechsel
Gebet
Gott, wir bitten dich,
sende uns dein Licht und deine Wahrheit
in unser Leben, in unsere Liebe,
in unsere Familie und unser Herz.
Erleuchte alle, die Dunkles im Sinn haben,
sei du ihr Gewissen, das sie hindert,
sei du ihre Grenze, die sie achten.
Und behüte alle, die von dunklen Kräften bedroht sind,
und mit Kraft aus deinem Geist,
dass wir auch Unrecht, Nachteil und Leid
aufrecht und ohne Hass bestehen können.
Darum bitten wir dich im Namen unseres Herrn und Bruders
Jesus Christus, der mit dir und dem heiligen Geist lebt und regiert
Von Ewigkeit zu Ewigkeit
Amen
Lied: Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser. EG 278, 1-3 mit Kehrvers
Lesungen des Büchereiteams aus „Tannöd“
Lesung 1.1: Seite 5 (Interviewer): „Den ersten Sommer … wieder gehen würde.“
Lesung 1.2: Seite 21-22 Mitte(Traudel Krieger): „Am Freitag in der Früh … den Schmuser“, Seite 24-26. „Wie ich schon gesagt habe … es warenTränen.“
Lesung 1.3: Seite 60-63 (Die alte Dannerin): „Mildreichster Jesus …hinüber in den Stall“.
Musik Klavier / Orgelimprovisation - Idylle/Scheinidylle/ von der „Insel des Friedens“ zum „Morddorf“
Lesung 2.1: Seite 84-87 (Franz-Xaver Meier): „So gegen fünf Uhr …mich jetzt entschuldigen würden…)
Lesung 2.2: Seite 105-107 (Maria Lichtl): „Wenns mich fragen …wie ich sag.“
Stille
Predigt
(Lot und seine Brüder)
Liebe Gemeinde,
jede hat geschwiegen, keiner hat was gesagt. Getratscht und getuschelt haben sie, aber wirklich gesagt hat niemand was. Alle blieben stumm bis das Schweigen durch einen Mord gebrochen wurde. Durch diesen offenen und offensiven Ausbruch von Gewalt kamen all die anderen Verbrechen ans Licht. Stück für Stück, mosaiksteinartig, setzt sich im Rückblick das Bild dieses Dorflebens, das Leben auf dem Hof, zusammen. Jede und jeder fügt mit ihrer und seiner Stimme, aus seiner Sicht, ein neues kleines Detail hinzu.
Die Autorin nimmt den Lesenden jede Möglichkeit, Abstand zu halten. Dadurch dass jede Person selber zu Wort kommt, werde ich selber zur Ohren-Zeugin der Verbrechen, des perfiden Systems, das alles gestützt, geschützt und ertragen hat. Zwischen den Interview-Teilen liegen erzählende Abschnitte, in denen sich genauso mosaikartig der Tathergang zusammenfügt. Ich werde auch zur Augenzeugin.
Dieser Krimi berührt aber nicht zuletzt auch wegen seiner Aktualität. Immer wieder erfahren wir in den Medien von solchen oder ähnlich Fällen. Hier ist es so, dass eine ganze Familie jahrzehntelang unter einem gewalttätigen Despoten, der sich selber als „Herrgott" über seinem Hof beschreibt, leidet. Er hat alle in der Hand. Er nimmt sich mit Gewalt, was er will. Er vergewaltigt die Mutter, die Magd, die Tochter, zeugt mit der Tochter zwei Kinder. Die Mutter hat es gewusst, aber nichts gesagt, weil sie froh war, selber aus dem Blickfeld ihres brutalen Ehemannes gekommen zu sein.
Die Dorfbewohnerinnen haben es gewusst, aber naja, was geht sie das an? „Bin ich denn der Pfarrer oder Richter?". Ich kann nichts machen. Wer bin ich denn? Das, was einem Außenstehenden zunächst als Insel des Friedens erschienen war, war es von innen betrachtet nie. Es war schon immer ein Morddorf gewesen.
Für die, die auf dem Hof lebten war es schon immer die Hölle gewesen. Erst die brutalen Morde haben dem ein unumkehrbares Ende gesetzt. Aber schon viel früher wurde Menschen durch Vergewaltigungen, Inzest, Demütigungen, Schweigen, das Leben genommen. Einer in der Kette von Demütigungen und Gewalt hat es schließlich nicht mehr ausgehalten. Der Mord wird aus seiner Sicht als ein Befreiungsschlag beschrieben. Die Stille, das Schweigen, die Enge wurde durchbrochen, das System, das sich gegenseitig stützt, wurde gesprengt. Die Enge eines Dorflebens, wo harte Arbeit und ein strenger Glaube, das Denken und Handeln der Menschen bestimmt, die Enge einer Gesellschaft, die sich selber zum Schweigen verurteilt hat, wurde mit noch mehr Gewalt aufgebrochen. Eine Gewalterfahrung führte zu einer nächsten, eine Erniedrigung und Demütigung zu einer anderen. Wer kann schon sagen, wo es angefangen hat? Wir kennen nur das Ende.
In der Bibel gibt es zahlreiche Geschichten, die dieselben und ähnliche Themen behandeln:
Wir lesen von Mord und Totschlag, Vergewaltigung, sexueller Gewalt in der Familie und Inzest: so erschlägt Kain seinen Bruder Abel. (Gen4) Dina, eine Tochter Jakobs, wird von dem Hetiter Sichern vergewaltigt. Dinas Brüder üben Rache, sie ermorden Sichern und seine Leute nach einer List. Die eine Gewalttat führt zur nächsten. (Gen 34)
Es ist kein geringerer als König David, der Batseba zu sich bringen lässt, weil sie ihm gefällt. Als sie von ihm schwanger ist, lässt er ihren Mann in vorderster Frontlinie im Krieg töten - so fällt auch sein Mord nicht weiter auf und schließlich nimmt er Batseba großzügig zu sich an den Hof: auch hier wird Gewalt vertuscht und verschleiert. (2 Sam 12). Alle sehen es, aber wer sind sie schon - er ist doch der König!"
Damit ist aber die häusliche sexuelle Gewalt im Hause Davids nicht beendet. Davids Sohn Absalom vergewaltigt seine eigene Schwester Tamar. (2 Sam 13,1-21). Diese Geschichten zeigen, was bis heute noch stimmt: sexuelle Gewalt kommt in den besten Familien vor.
Auch eine Inzestgeschichte ist in der Bibel beschrieben: Lot vergewaltigt seine Töchter und sie gebären ihm zwei Söhne. Die Mutter ist zu diesem Zeitpunkt abwesend. Als sie zurückblickt, wird sie zur Salzsäule. (Gen 19) Auch hier ist das Schweigen typisch. So zynisch es klingt, es ist die Realität. Der Zwiespalt der Gefühle, in den die Familienmitglieder geraten, wenn ein Missbrauch deutlich wird, lässt sie schweigen. Aus Rücksicht auf die Familienbindungen werden meist eher die Täter geschützt als die Opfer. Das Bild der heilen Familie darf nicht angetastet werden aus Angst davor, dass alles zerbricht, worauf sie sich stützen.
Theologie und Kirche haben zu diesen Geschichten lange geschwiegen. Sie wurden als alte Schauergeschichten abgetan. Doch das, was Dina, Batseba, Tamar und zahllosen Frauen geschehen ist, deren Namen nicht überliefert wurde, ist vielen Kindern, Jugendlichen, Frauen geschehen und geschieht leider immer noch.
Im gesamtbiblischen Kontext gesehen enden die Geschichten nicht mit dem Schweigen. Unsere biblische Tradition hat eine heilsame Sprache für Gewalterfahrungen. In den Klagepsalmen, in den Klageliedern, in vielen Texten der Bibel finden sich Worte des Zorns und der Verzweiflung, der Anklage und des Hasses.
Bis heute verleihen diese Texte, vor allem die Psalmen all Jenen gerade dann eine Stimme, wenn es ihnen selber schwer fällt, eigene Worte dafür zu finden. Viele Psalmen, die oftmals wegen ihrer gewalttätigen Bilder christlicherseits mit Argwohn betrachtet werden, erhalten ein neues Gewicht, wenn ich sie aus der Sicht der Opfer und Unterdrückten lese.
Dort ist von den Taten anderer Menschen die Rede, von Gewalt und Verrat und Verlassenheit durch böse Menschen, gerade auch die Allernächsten. So heißt es im 55. Psalm: „Doch nicht mein Feind missachtet mich, das könnte ich ertragen. Nein du, ein Mensch, der mir verwandt ist, mein Bekannter, mein Vertrauter." (V 13f)
Die, denen Gewalt angetan wurde, brauchen die Klageworte. Denn sie decken das, was ihnen geschehen ist, nicht beschönigend zu, sondern erlauben ihnen, fordern sie zur Klage und Anklage auf, geben ihnen Worte, wo sie es selber nicht können, wo Scham und Angst ihnen die Sprache verschlagen hat. Doch die Brutalität der Sprache wird als zu anstößig, zu brutal empfunden. Im Gesangbuch sind „Gewaltpsalmen" entfernt worden. Und schon wieder verlieren sie ihre Stimme.
Oft wurden die Gewaltgeschichten der Bibel falsch verstanden, indem sie eben nicht im Interesse der Opfer gelesen wurden, sondern indem Gewalt als gottgegeben hingenommen wurde. Das ist ein Missverständnis bis heute. Auch im Krimi finden wir solche Annahmen. Die Frau des Tyrannen flüchtet sich ins Gebet. Die Kirche lehrte doch demütig durchzuhalten und auf Christus hoffen. Später wird die Erlösung dann folgen. Sie selbst nennt es sogar eine Prüfung, die ihr auferlegt ist. Der Pfarrer findet im AT die Vorlage für das Verhalten des Hofbesitzers. Damit liest er nicht nur das AT falsch, sondern stellt ihm auch noch göttliches Recht zur Seite für sein Verhalten. Und auch die Tochter liest doch in der Bibel, das Lot mit seinen Töchtern schläft. Es muss doch dann richtig sein.
Die Geschichten der Bibel wollen Gewalt weder gut heißen, noch Gewalt fortschreiben. Wo solche Lesarten in der Bibel oder mit der Bibel vorgeschlagen werden, muss nach dem Interesse des Geschichtenerzählers gefragt werden.
Wessen Macht wird dadurch gestützt? Wem dient diese Lesart? Falls die Antwort nicht „den Opfern" lautet, muss berechtigterweise Zweifel angemeldet werden.
Wer Gewalt anklagt, hat Gott auf seiner Seite. Gott, wie ihn die Bibel zeichnet, stellt sich am Anfang der Zehn Gebote vor: „Ich bin Adonai, bin dein Gott, weil ich dich aus Ägypten, aus dem Haus der Sklavenarbeit herausgeholt habe." Gott ist ein Gott der Freiheit gegenüber allen Formen von Unfreiheit und Gewalterfahrung. Gott ist auf der Seite derer, die Gewalt erfahren und auf der Seite derer, die gegen Gewalt ihre Stimme erheben.
Es ist schlimm, dass in unserer Gesellschaft hier vor Ort und weltweit Mädchen und Frauen, Jungen und Männer zu Opfern von allen Formen von Gewalt werden, dass ihnen mitten unter uns Schlimmes passiert, und die Täter zeigen harmlose Gesichter und fühlen sich sicher. Schön wäre, wenn Krimis nur Geschichten wären.
Es ist unser aller Auftrag, in besonderer Weise Auftrag der Kirche, nein zu sagen gegen jede Gewalt, zur Sprache zu bringen, was schändlicherweise verschwiegen und verharmlost wird.
Gewalterfahrung betrifft nicht nur die, die sie erleiden, sondern die gesamte Gesellschaft. - das wird im Krimi deutlich, im Volk Gottes zur Zeit der Bibel und auch bei uns. Es sagt etwas über alle aus, wo Gewalt akzeptiert und stumm geduldet wird.
Ich wünsche mir, dass es uns als Gemeinde gelingt, Verbrechen, die heute unter uns geschehen, nicht zu verschweigen und rücksichtsvoll zuzudecken, sondern genau hinzusehen, zu hören, mutig zu sein, nicht nur zu tratschen und zu tuscheln, sondern zu reden. AMEN
Fürbitten / Ausgang
Lied: EG 278, 6-8 Kehrvers nach Strophe 8
die nicht davonlaufen beim ersten Geruch des Schreckens
wir brauchen welche
die hoffen können
die Dein Mund sind Dein Ohr und Dein Schrei
denen schick Deine Kraft Gott
die lass ansteckend sein
(Carola Moosbach, Lobet die Eine. Schweige- und Schreigebete, Mainz 2000)
Fürbitten (Büchereiteam)
Gesungener Zwischenruf: Meine engen Grenzen (EG 600,1)
Gott, Du Ziel unserer Hoffnung,
sei bei allen Frauen, Männern und Kindern,
denen sexuelle Gewalt angetan wurde oder wird.
Sei ihnen schützende Vertraute und
zärtliche Freundin.
Sei Ihnen die Kraft im Rücken und der Schutz, den sie brauchen.
Gott, Du Quelle allen Lebens,
sei bei denen, die vor Entsetzen stumm sind,
über das, was ihnen geschehen ist.
Hilf Ihnen, Worte zu finden
und Ohren, die diese Worte aushalten können.
Hilf Ihnen, Menschen zu begegnen,
die die ungesagten Worte,
die lautlosen Schreie hören.
Gott, Du Freundin der Menschen,
sei bei denen, die sich nicht spüren können
und sich deshalb selbst verletzen.
Sei Du bei ihnen mit Deiner Zärtlichkeit
und lass sie ihre Gefühle,
lass sie sich selbst wieder finden.
Gott, Du Licht in der Dunkelheit,
sei bei denen, die verzweifelt sind
und die das Gefühl haben,
nur ihnen würde das passieren.
Sei Ihnen das Licht in der Nacht,
das wärmende Feuer in der Kälte
und zeige Ihnen einen Weg aus der Einsamkeit.
Gott, Du Quelle aller Kraft,
sei bei denen, die Menschen begleiten,
denen sexuelle Gewalt angetan wurde.
Lass ihnen Dein Licht leuchten,
wenn sie nicht mehr weiter wissen,
wenn sie nicht wissen, was sie tun sollen.
Lied: Möge die Straße (Liederzettel)
Segen
Musik