"Ein Sommer, der bleibt" von Peter Kurzeck

Peter Kurzeck erzählt das Dorf seiner Kindheit
Autorin: Pfarrerin Barbara Friedrich
Literaturgottesdienst in der evang. Johannesgemeinde in Hofheim/Taunus zu „Ein Sommer, der bleibt. Peter Kurzeck erzählt das Dorf seiner Kindheit.“ Berlin: Supposé 2009. 4 CDs mit Booklet. 290 Min. ISBN 978-3-932513-85-5. 34,80
Vorbemerkung 1: Den Roman „Ein Sommer, der bleibt“ gibt es „nur“ als Hörbuch. Es ist ein ausschließlich erzählter Roman. Deshalb sind die Texte in dieser Andacht Niederschriften des Gehörten – und da Peter Kurzeck „ohne Punkt und Komma“ erzählt, fehlen auch viele (nicht alle) Satzzeichen in den Abschriften oder die Sätze gehen nicht zu, eben genau so, wie es sich anhört, wenn jemand erzählt.
Vorbemerkung 2: Für eine Lesung wäre es reizvoll, aus Marieluise Kaschnitz’ „Beschreibung eines Dorfes“ zu lesen als Kontrast und Ergänzung.
Als Bibeltext könnte man die Beschreibung des himmlischen Jerusalem (Offenbarung 21) dazu lesen; eine „Stadt, die ewig bleibt“ im Kontrast zu dem Sommer, der bleibt (aber eben doch nicht geblieben ist).
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Übersicht/Ablauf
Lieder:
EG 613 „Freunde, dass der Mandelzweig“ von Shalom Ben-Chorin
oder
EG 452 „Er weckt mich alle Morgen“ von Jochen Klepper
oder
EG 166 „Tut mir auf die schöne Pforte“ von Benjamin Schmolck
EG 272 „Ich lobe meinen Gott“ nach Ps. 9,2-3
oder
EG 317 „Lobe den Herren“ von Joachim Neander
EG 58 „Nun lasst uns gehn und treten„ von Paul Gerhardt
EG 258 „Zieht in Frieden eure Pfade“ von Gustav Knak
EG 499 „Erd und Himmel sollen singen“ von Paul Ernst Ruppel
Psalm Ps. 66
Eröffnung und Anrufung
Musik zum Eingang
Begrüßung
Lied EG 613 oder 452 oder 166
Psalm 66 gelesen im Wechsel mit Gemeindegesang EG 499
Kyrie-Gebet
„Ein Sommer, der bleibt“
Lesung 1
Orgelzwischenspiel / Meditative Musik
Lesung 2
Orgelzwischenspiel / Meditative Musik
Ansprache
mit Zitaten aus „Ein Sommer, der bleibt“
Lied EG 272 oder 317
Kanzelabkündigungen / Fürbitte / Ausgang
Abkündigungen
Fürbittengebet
Vater unser
Lied EG 258
Segen
Musik zum Ausgang
Eröffnung und Anrufung
Orgelmusik zum Eingang
Begrüßung
Lied EG 613 Freunde, dass der Mandelzweig
oder EG 452 Er weckt mich alle Morgen
oder EG 166 Tut mir auf die schöne Pforte
Psalm 66 gelesen im Wechsel mit Gemeindegesang EG 499 Erd und Himmel sollen singen
Jubelt Gott zu, all ihr Länder,
2 singt Psalmen zur Ehre seines Namens, lasst sein Lob auf herrliche Weise erklingen!
3 Sagt zu Gott: »Wie ehrfurchtgebietend sind doch deine Taten! Wegen deiner großen Macht müssen selbst deine Feinde unterwürfig vor dich kommen.
4 Alle Länder werden sich anbetend vor dir beugen und dir Psalmen singen, ja, deinen Namen werden sie besingen.
5 Kommt und seht, welch große Taten Gott vollbracht hat! Erhaben und erschreckend zugleich ist sein Handeln an den Menschen.
6 Er verwandelte das Meer in trockenes Land. Trockenen Fußes konnte unser Volk auch den Jordan durchqueren. Dabei freuten wir uns über unseren Gott!
7 In seiner Macht herrscht er für immer und ewig. Seine Augen blicken wachsam auf die Völker – widerspenstige Menschen sollen es nicht wagen, sich gegen ihn zu erheben! //
8 Preist, ihr Völker, unseren Gott! Lasst mit lauter Stimme sein Lob erklingen!
EG 499, Vers 1
9 Er belebt unsere Seele und bewahrt unsere Füße vor dem Stolpern.
10 Ja, Gott, du hast uns Prüfungen ausgesetzt, du hast uns geläutert wie Silber ´im Schmelzofen`.
11 Du hast uns ins Fangnetz geraten lassen, hast drückende Lasten auf unseren Rücken gelegt.
12 Du hast nichtswürdige Menschen über uns hinwegtrampeln lassen ´wie über besiegte Feinde`. Ins Feuer sind wir geraten, ins Wasser ebenso – aber du hast uns herausgeführt und mit Überfluss beschenkt.
16 Kommt und hört mir zu, ihr alle, die ihr Ehrfurcht vor Gott habt! Ich will erzählen, was er für mich getan hat.
17 Zu ihm rief ich mit lauter Stimme, mein Mund war voll seines Lobes.
EG 499, Vers 2
Jubelt Gott zu, all ihr Länder,
2 singt Psalmen zur Ehre seines Namens, lasst sein Lob auf herrliche Weise erklingen!
8 Preist, ihr Völker, unseren Gott! Lasst mit lauter Stimme sein Lob erklingen!
9 Er belebt unsere Seele und bewahrt unsere Füße vor dem Stolpern.
20 Gelobt sei Gott, der mein Gebet nicht abgewiesen und mir seine Gnade nicht entzogen hat.
(Übersetzung: Neue Genfer Übersetzung)
EG 499, Vers 3
Kyrie-Gebet
Lasst uns beten:
Gott, wir singen Dir mit Herz und Mund –
Und wir danken Dir für alles, was Du uns schenkst.
Gott, wir klagen Dir mit Herz und Mund
Und bringen Dir alles, was zerbrochen, verletzt und vergangen ist.
Wir bringen Dir unsere Schmerzen und unsere Fehler.
Wir bringen Dir alles, was uns misslungen ist,
alle Not, allen Zorn, allen Stolz.
Wir bitten Dich: Hilf uns, wenn wir wieder an Grenzen stoßen
Wir bitten Dich, erbarme Dich und halte uns.
Herr, erbarme dich.
Gemeinde: Herr, erbarme Dich
Gnadenzuspruch: Gott spricht: Ich stärke Dich, ich helfe Dir auch, ich halte Dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit. Jes. 41, 10
"Ein Sommer, der bleibt"
Lesung 1 Kurzeck
Das Dorf meiner Kindheit ist Stauffenberg im Kreis Gießen.
Als wir dort hinkamen war das ein sehr kleiner Ort, den man nur über Feldwege und über eine Schotterstraße, eine eigentlich mürrische Schotterstraße erreichen konnte
Es war einerseits winzig klein aber es war auch sehr schön
Es war ein Ort in dem man nicht nur jeden Menschen sondern jede Kuh und jede Ziege und die Hunde sowieso und die Katzen wo man alles kannte…
Wir kamen in Stauffenberg an mit Lastwagen, also alten Armeelastwagen oder so aus unserem letzten Flüchtlingslager, das war in Gießen am Stadtrand gewesen, die Baracken standen dann noch Jahrzehnte da, und wurden dann auch für Obdachlose benutzt und alles mögliche; wir kamen an, die Lastwagen fuhren durch das Dorf durch, fuhren erst an blühenden Wegrändern vorbei also das war, denke ich, Juni oder Anfang Juli als wir da ankamen …
Fuhren durch das Dorf, fuhren an einem schönen, schweigenden Turm vorbei, einem alten Stadtturm, obwohl es ein ja Dorf nur war, ein sehr kleiner Ort, und fuhren auf die Burg, hielten im Burghof und die Leute stiegen von den Lastwagen ab, jeder mit seinem Bündel und dann wurden die Menschen sortiert das heißt die Namen waren wohl schon auf Listen und es wurde gesagt wer in der Burg wohnt und in der Burg waren große Säle, das hat mich sehr beeindruckt wo man wohnen konnte aber die waren unterteilt mit Wänden, die nicht bis an die Decke gingen, weil diese Säle natürlich 6 Meter hoch waren oder so und da haben sie vorwiegend alte Leute in der Burg untergebracht und wir, also meine Mutter und meine Schwester und ich bekamen wie die anderen einen Zettel, auf dem eine Adresse im Dorf drauf stand und dann hat meine Mutter zu meiner Schwester und mir gesagt: Kinder bleibt hier bei unseren Sachen und ich gehe und sehe nach, wo es ist, und ging dann weg und wir haben ihr nachgesehen
Man gewöhnt sich ja auf so einer Flucht, einer Umsiedlung an, ich weiß nicht, allem besonders deutlich nachzusehen, weil es immer sein kann, man sieht das nicht mehr
Also wir sahen sie gehen und meine Schwester und ich saßen bei diesem Bündel und dann konnten wir unter uns Dächer sehen und die Schwalben, die unter uns flogen also niedriger als diese Terrasse, dieser Burghof gewesen ist
Das ganze Dorf lag am Berg und die Burg an der höchsten Stelle eigentlich darüber kam dann nur noch Wald und eine Ruine noch höher und das war ein Abendhimmel wie ein goldener Spiegel oder so
mir wurde plötzlich auch angesichts der Schwalben und dieser langen Reise, von der ich ja noch nicht wusste, ob sie wirklich zu Ende ist, wurde mir klar, dass wir Menschen sind. Ich weiß noch genau, dass ich dachte, wir sind Menschen, eben verglichen mit den Schwalben und den Lastautos, die gerade wieder abfuhren und den Hunden, die zu der Zeit auch in Deutschland in den Dörfern noch also nicht alle, aber viele Hunde einfach frei rumliefen am Abend
Und dann kam meine Mutter zurück und sagte,
ich weiß nicht, ob inzwischen eine Ewigkeit vergangen war, oder was,
kam zurück und sagte: Ah Kinder, wir haben ein sehr schönes Zimmer bei ganz freundlichen Leuten gefunden
und das tolle war, das war ein Zimmer mit Fenstern nach drei Seiten
meine ganze frühe Kindheit hindurch wir haben da gewohnt bis ich 6 war
meine ganze frühe Kindheit hindurch konnte ich von dem wichtigsten Fenster aus, das zur Hauptstraße zu einer Kreuzung hinging wo ich auch manchmal auf der Fensterbank saß und rausgeschaut hab oder gefrühstückt oder was konnte ich in 8 verschiedene Höfe hineinschauen und sehen, wie die Leute ihren Tag anfangen und mir wurde bewusst, dass jeder Bauer auf eine andere Art den Wagen anspannt beispielsweise es gibt welche die reden mit ihren Kühen und man hat den Eindruck die Kühe sprechen auch mit ihnen während er sie aus dem Stall führt und dann anspannt
andere stoßen ihre Kühe dann zu den Wagen hin und deshalb wollen die Kühe natürlich nicht und dann muss er erst recht stoßen
der wird sein ganzes Leben lang die Kuh stoßen oder die beiden Kühe und die Kühe werden immer deswegen stehen bleiben weil sie das so nicht wollen
einer ist immer etwas zu spät dran und man sieht ihn morgens aus der Haustür rauskommen er hat Gummistiefel angezogen, weil er nicht genug Zeit hat die schweren Schuhe mit Stahlkappen zu schnüren muss er schnell Gummistiefel anziehen ist zwei Minuten zu spät und die wird er nie einholen, diese zwei Minuten weil die ja ….. das geht nicht, dass man zwei Minuten einholt weil sie sind immer schon wieder weg ich muss selbst manchmal aufpassen, dass ich nicht denke, ich bin zwei Minuten zu spät und müsse es aufholen weil wenn man zwei Minuten zu spät ist und bleibt zu spät ist es ja egal aber wenn man denkt das musst du schaffen dann hat man den Rest seines Lebens damit zu tun, ja
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Kurzes Orgelzwischenspiel / Meditative Musik
Lesung 2: Kurzeck
Ich kann mich erinnern, Sonntagmorgen, während dieser langen Messen
ich musste nicht in die Kirche gehen also von meinen Eltern aus ich ging aber hin eigentlich und da gibt es so eine Abfolge von Sitzen und Stehen und Knien und die Kinder der frommeren Eltern hatten ein Buch, das Schott heißt und in dem genau beschrieben wird wie so eine Messe abläuft
Also wann man zu stehen hat, wann man sitzt wann die Predigt stattfindet
Was gesungen wird das wurde ja jeden Sonntag dann im Laufe des Kirchenjahres neu festgelegt was gesungen wird und auch die Liedertexte waren in diesem Schott drin.
Wenn man so einen Schott aber nicht hatte dann konnte man überhaupt nicht mehr entscheiden, wie viel Zeit schon vergangen war wie lang so eine Messe dauert es war einfach eine Ewigkeit
Irgendwann spielte die Orgel mit dem Aufstehen und Knien und Sitzen hat man sich nach den anderen gerichtet und lange auch der Predigt des Pfarrers zugehört die halbwegs unverständlich war, also die einen bestenfalls dann auf eigene Gedanken brachte
Er konnte auch nicht sehr gut predigen der Pfarrer und ich weiß noch, wenn man dann vorne
kniete um auf die Absolution zu warten wenn man am Samstag gebeichtet hatte und am Sonntag vorne kniete um auf die Absolution zu warten und diese Hostie dann auf die Zunge gelegt bekam und man wusste man darf die nicht einfach schlucken
man darf sie vor allem nicht kauen eigentlich muss sie sich von alleine auflösen
So bald man wusste, was man alles nicht darf war es ganz schwer auszuhalten
…
Und dann geht man an seinen Platz zurück und eigentlich denkt man drei- oder viermal
so lange kann eine Messe nicht dauern, das ist die längste überhaupt und dann packte mich eine seltsame Zwangsvorstellung, nämlich während ich in der Kirche saß oder kniete oder stand und wieder kniete und saß musste ich mir vorstellen, wie es wäre, diese Kirche von innen her aufzufressen
die war innen sehr hell mit Säulen, mit einfachen viereckigen Säulen und mit Wandverputz und der Wandverputz hatte drei oder vier verschiedene Farben die alle ungefähr zwischen einem matten weiß einem cremeweiß und einem ocker und gelb und rosa variierten und er war so grob, dass er einem in seiner Struktur fast bröckelig vorkam und erinnerte sehr stark an etwas was wir Eiswaffeln nannten als Kind, es waren aber keine Eiswaffeln sondern Cremewaffeln und zu der Zeit gab es die nur auf Jahrmärkten eigentlich…
Und ich hab mir vorgestellt, dass die Kirche, dass der raue Verputz … so ähnlich schmecken aber immer ein bisschen unterschiedlich, je nach Farbabstufung nur dass sie noch zäher sind und überhaupt nicht süß sind und ich fing immer mit der hellbraunen lehmfarbenen Wand an, weil ich mir die als die allerzäheste vorstellte und ging dann während die Messe weiterging und weiterging und weiterging ging ich dann zu der cremefarbenen und rosafarbenen über und habe versucht, mir die Säulen und den Altar bis zuletzt aufzuheben
der Altar war glatt und aus Stein und von dem hab ich mir vorgestellt, er müsste anders schmecken
ich wusste natürlich dass man die Kirche nicht essen kann es war gerade ein so absurder Gedanke, dass man ihn einfach nicht mehr loswurde
…
Aber eigentlich sitze ich immer noch in der Kirche und esse weiter an diesem Rauverputz herum und warte darauf, dass zum Schluss die Orgel aufklingt, was dann ein mächtiges erlösendes Geräusch war
die Orgelmusik fällt von oben herunter
die Kirche man hört ohne sich umzudrehen hört man dass hinter einem die Kirchentür geöffnet wird und weiß jetzt kann es nicht mehr lang dauern bis man raus geht
und dann raus zu kommen nach der Kirche in das Freie zu kommen hat einem eigentlich immer entschädigt dafür, dass man da zwei Stunden oder annähernd zwei Stunden als Gefangener drin saß.
Kurzes Orgelzwischenspiel / Meditative Musik
Ansprache
Liebe Gemeinde,
Ein Sommer, der bleibt. So heißt dieser außergewöhnliche Roman, aus dem wir bereits Hörproben vorgelesen bekommen haben.
Ein Sommer, der bleibt. Wir wissen alle: Kein Sommer bleibt. Jeder Sommer vergeht und der Herbst kommt, der Herbst unseres Lebens auch. Und alles, alles, was wir sehen, das muß fallen und vergehen.
Ein Sommer, der bleibt. Untertitel: Peter Kurzeck erzählt das Dorf seiner Kindheit. Er erzählt nicht von dem Dorf, aus dieser Zeit, sondern er erzählt das Dorf, als könne er es mit seinen Worten erschaffen, immer wieder neu, sobald das Dorf am Ende der mürrischen Schotterstraße aus seinen Worten gebaut wird. Worte können etwas erschaffen – so beginnt übrigens nach der Erzählung der Bibel auch die Welt!
Dieses Hörbuch wurde 2008 ausgezeichnet als Hörbuch des Jahres. Peter Kurzeck wird am 10.6. 1943 in Tachau, in Böhmen geboren. 1946 wird die Familie vertrieben und flieht in den Westen; Staufenberg bei Gießen wird die neue Heimat. Seit 1971 lebte er in Frankfurt/ Main und Südfrankreich. Am 25. November 2013 ist Peter Kurzeck in Frankfurt am Main verstorben.
Er musste erzählen, um fest zu halten, was vergangen ist. Hören wir noch einen kleinen Ausschnitt.
„Meistens als Kind auf dem Heimweg ist mir die Nacht auf den Hals gekommen also es passiert einem immer dass man dann zu spät dran ist eigentlich man denkt man behält genau den Tag im Auge und die Uhr im Auge und alles und dann steht man irgendwo weit weg und weiß mit Mühe noch wer man ist aber schon nicht wie man dort hingekommen ist und es wird dunkel und man hat den Heimweg noch vor sich
dabei ist es gleichzeitig natürlich sehr schön abends im Herbst heimzugehen man hat ein bisschen nasse Füße und man weiß man kommt heim und macht ein Fußbad muss, muss eine bömische Knoblauchsuppe essen damit man nicht sich erkältet mit diesen nassen Füßen sitzt am Tisch isst die Suppe …
man sitzt am Tisch macht vielleicht sogar ein Fußbad in der Küche also ein heißes Fussbad und malt sich mit Buntstiften, weil man ja ein Flüchtlingskind ist ein Königreich.“
(Abschrift Peter Kurzeck, Ein Sommer, der bleibt. Suppose Berlin)
Nach Hause kommen, Heimat haben, geborgen sein bei einer warme Suppe. Und das Flüchtlingskind malt sich am Küchentisch ein Königreich, aus dem niemand vertrieben werden kann.
Selten spricht Peter Kurzeck von sich als „ich“ – meistens ist es „man“. So sehr er sammelt und festhält die Erinnerungen, so braucht er wohl auch ein Stückchen Abstand, ein Stück Objektivierung. Man kommt heim – nicht ich komme heim – und schon gar nicht: ich kam heim, damals. Für „damals“ ist es alles viel zu nah, viel zu präsent. Und für „ich“ ist es vielleicht auch zu nah. Ein anderes Wort kommt ganz oft vor, es schleicht sich einfach hinein in diese Flut von Erinnerungen und Worten – das Wort eigentlich. Eigentlich – es steht als kleiner Störenfried in diesen Sätzen ohne Punkt und Komma, eigentlich wollte ich erzählen und eigentlich war es so, dass man immer zu spät dran war, obwohl es natürlich nicht immer so war, aber eigentlich kann man doch sagen, dass es immer so war, vielleicht fast immer.
Eigentlich zeigt sich, dass Erinnerungen sehr präzise sein können und doch auch eigentlich muss man sagen, es sind nur Erinnerungen, da bleibt ein kleiner Rest von dem Wissen darum, dass unsere Erinnerungen auch trügen können.
Und eigentlich kommen die Erinnerungen uns ganz nah, so nah, dass man sie erzählen und sammeln und damit das Dorf behalten kann, aber eigentlich wissen wir doch auch, dass es auch eine schmerzliche Seite hat, dieses erzählte Dorf, das es so eben eigentlich nicht mehr gibt. Alles hat sich sehr verändert. Keine Kindheitssommer an der Lahn, den ganzen Tag draußen. Den Hund gibt es nicht mehr, den Begleiter der Kindheit, für den das Flüchtlingskind keine Hundesteuer zahlen konnte. Deshalb sind die täglichen Begegnungen mit dem Bürgermeister eine Qual, der weiß doch sicher um die nicht gezahlte Steuer, aber er sagt nie etwas…
Es gibt auch den Bücherbus nicht mehr vom Amerika-Haus, den großen blauen Bus, in dem so viele wunderbare Lesewelten zu bekommen waren. Es gibt das Kind Peter Kurzeck nicht mehr, das eigentlich seine ganze Kindheit lang Angst hatte, das die Bücher nicht reichen für ihn, für sein ganzes Leben lang.
Aber das ist ja gerade der tiefste Grund des Erinnerns und Sammelns: Es ist vergangen – vorbei, eigentlich nicht mehr da, und doch kommt es zurück, wenn das Erzählen beginnt.
Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung. Dieses Wort wurde geprägt von einem jüdischen Rabbi, der im 18. Jahrhundert lebte.
Erinnerung ist eine Aufgabe, die uns auch die Bibel stellt. Psalm 103. Lobe den Herrn meine Seele und was in mir ist seinen heiligen Namen und vergiss nicht, was er Dir Gutes getan hat.
In Psalm 77, 6 heißt es: Ich gedenke der alten Zeit, der vergangenen Jahre.
Ich gedenke der vergangen Jahre und erinnere mich an das, was Gott für uns getan hat. Er hat sein Volk befreit, erlöst aus der Sklaverei. Er hat uns geführt und begleitet, mit seinen Weisungen beschenkt und mit seinem Segen. Gerade dann, wenn uns etwas verloren gegangen ist, gerade dann, wenn wir nachschauen, zurückschauen, mit Schmerzen und Sehnsucht, gerade dann, wenn es dunkel wird und alles nach Verlust und Vergangenheit schmeckt, dann ist es wichtig, dass wir uns erinnern. Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung.
Erinnerung ist Vergewisserung. So sehr unsere eigenen Erinnerungen auch unklar sein mögen. Mag sein, dass wir uns nicht mehr so genau erinnern und manches in der Erinnerung schöner wird oder auch schrecklicher. Aber die Erinnerung verortet uns, sie gibt unserem Leben einen Ort. Und nicht nur unserem eigenen Leben, sondern auch dem Leben anderer Menschen. Sie haben einen Namen und einen Ort, sie haben eine Geschichte. Wir alle haben eine Geschichte. Manche Menschen sagen über einen lieben Verstorbenen, er lebt in unserer Erinnerung. So endlich auch unsere Erinnerungen sind, so schnell sie uns auch verloren gehen können – so sicher wissen wir, die wir an Gott glauben, dass bei ihm alle Erinnerungen, alle Orte, alle Namen in Ewigkeit bewahrt bleiben.
Gott bleibt, wenn nichts bleibt. Alles ist so anders geworden, „darum denke ich an die Taten Gottes, ja ich denke an Deine früheren Wunder und sinne über alle Deine Werke und denke Deinen Taten nach. … Du hast Dein Volk erlöst mit Macht“. Psalm 77
Ich gedenke der alten Zeit – und ich vergewissere mich, dass ich bewahrt wurde. Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung. Wenn wir unsere Wurzeln kennen, können wir wachsen. Wenn wir unsere Wege betrachten, können wir sehen, welcher Segen auf unserem Leben liegt. Wenn wir uns erinnern und die Erinnerungen teilen und aussprechen, dann holen wir zurück, was eigentlich verloren ist. Wir betrachten es, es kann heilen, was heilen muss, es kann Dankbarkeit wachsen. Ich lobe meinen Gott, erzählen will ich von all seinen Wundern…
Amen.
Lied EG 272 Ich lobe meinen Gott
oder EG 317 Lobe den Herren
Abkündigungen/Fürbitte/Ausgang
Fürbittengebet:
Gott, wir danken Dir, dass Du bleibst, wenn alles vergeht.
Wir danken Dir für die Worte die Du uns schenkst.
Wir danken Dir für die Literatur, die Erinnerungen bewahrt, uns hilft, Erfahrungen zu teilen und Menschen und ihre Geschichten besser zu verstehen.
Wir bitten Dich für alle, die keine Worte finden
Wir bitten Dich für alle, die auch heute fliehen müssen in unserer Welt, und ihre Heimat verlieren, weil Krieg, Hunger und Ungerechtigkeit in ihrer Heimat herrschen
Für die Kranken unserer Gemeinde – die wir kennen und nicht kennen…
(„Literarische Fürbitten“ von Paul Gerhardt finden sich im Lied EG 58, die Strophen 6 – 15)
Gebetsstille
Vater Unser
Lied: EG 258 Zieht in Frieden Eure Pfade
Segen