„Paradies verloren“ von Cees Nooteboom

Gottesdienst über das Leben außerhalb des Paradieses
AutorIn: Pastor H.-J. und Gabriele Schliep
5. Literaturgottesdienst „Kronsberger Abendkirche“ am 15. Sonntag nach Trinitatis 24.09.2006 im Ev. Kirchenzentrum Kronsberg zu Cees Nooteboom: Paradies verloren. Roman. Aus d. Niederländ. von Helga van Beuningen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006. 156 S. ISBN 978-3-518-41726-3. € 16,80
Literaturgottesdienst zu "Paradies verloren" Druckversion PDF
Übersicht/Ablauf
Lieder:
EG 427,1-5 „Solang es Menschen gibt auf Erden...“
EG 142, 1-3 „Gott, aller Schöpfung heilger HERR…“
EG 142,4-6 „Mit Weisheit sind sie angetan...“
EG 432,1-3 „Gott gab uns Atem...“
EG 143,1-4 „Heut singt die liebe Christenheit...“
EG 467,1-4 „Hinunter ist der Sonne Schein...“
Eröffnung und Anrufung
1. Eingangshymnus: EG 272 „Ich lobe meinen Gott...“ (2x)
2. Begrüßung
3. Psalmgebet im Wechsel: EG 736 „Der Herr ist deine Zuversicht“ (Psalm 91)
4. Anrufung mit „Kyrie...“ und „Gloria...“
5. Biblische Lesung: 1. Mose 2,4b-9+15 „Halleluja...“
6. Gemeindelied: EG 427,1-5 „Solang es Menschen gibt auf Erden...“
„Paradies verloren“ Erzählt und Vorgelesen
7. Erzählt und Vorgelesen: Paradies verloren
8. Gemeindelied: EG 142, 1-3 „Gott, aller Schöpfung heilger HERR…“
9. Erzählt und Vorgelesen: Paradies verloren
10. Gemeindelied: EG 142,4-6 „Mit Weisheit sind sie angetan...“
11. Erzählt und Vorgelesen: Paradies verloren
12. CD-Einspielung Felix Mendelssohn Bartholdy: „Er hat seinen Engeln befohlen...“ (aus Oratorium „Elias“)
13. Erzählt und Vorgelesen: Paradies verloren
14. Gemeindelied: EG 432,1-3 „Gott gab uns Atem...“
Predigt
15. Predigt zu 1. Mose 2,15
Abkündigungen/Fürbitten/Sendung/Segen
16. Gemeindelied: EG 143,1-4 „Heut singt die liebe Christenheit...“
17. Kurze Ansagen
18. Fürbittgebet mit Vaterunser
19. Sendung und Segen
20. Gemeindelied: EG 467,1-4 „Hinunter ist der Sonne Schein...“
Eröffnung und Anrufung
1. Eingangshymnus: EG 272 „Ich lobe meinen Gott...“ (2x)
2. Begrüßung
3. Psalmgebet im Wechsel: EG 736 „Der Herr ist deine Zuversicht“ (Psalm 91)
4. Anrufung mit „Kyrie...“ und „Gloria...“
5. Biblische Lesung: 1. Mose 2,4b-9+15
„Halleluja...“
6. Gemeindelied: EG 427,1-5 „Solang es Menschen gibt auf Erden...“
„Paradies verloren“ Erzählt und Vorgelesen
[Erzählpassagen „Erzählerin 1 – 9“ werden von einer Person vorgetragen Die Lesungen aus dem Roman 1- 11 wurden unter 6 Frauen aus dem Literaturkreis aufgeteilt.]
7. Erzählt und Vorgelesen
Erzählerin 1:
Der Niederländer Cees Nooteboom gehört zu den bekanntesten europäischen Schriftstellern. Er wurde 1933 in Den Haag geboren und lebt in Amsterdam und auf Menorca. Einen besonderen Erfolg erzielte er mit seinem Roman „Rituale“.
Nooteboom ist kein Reiseschriftsteller. Aber nahezu alle seine Bücher erzählen von Menschen, die auf Reisen sind. Sie besuchen alle erdenklichen Stätten der Welt, ohne irgendwo eine Stätte zum Bleiben zu finden. Diese sehr modernen Menschen erinnern an den uralten Kain, der – jenseits von Eden – „unstet und flüchtig“ über die Erde ziehen muss. Kain baut zwar Städte, findet aber keine wirkliche Heimat. Nooteboom lässt seine Figuren auch durch die gesamte Kulturgeschichte reisen. Aber sie finden keinen wirklichen Halte- und Haftpunkt, weder in Raum und Zeit noch in sich selbst.
Dementsprechend wird der Roman „Paradies verloren“, veröffentlicht im Jahr 2004, nicht chronologisch, sondern in meist kurzen Versatzstücken in Vor- und Rückblenden mit motivischen Querverweisen und Wiederholungen und Ortswechseln erzählt. Er ist wie ei-ne Collage aus verrückten und dennoch verbundenen Einzelbildern: ein „offenes Kunstwerk“ – mit Auftakt und Schlussakkord, aber oh-ne wirklichen Anfang und wirkliches Ende, mit nur einer konkreten Zeitangabe, ansonsten wie zeitlos.
„Paradies verloren“ verknüpft Ereignisse im Leben der beiden jungen Frauen Alma und Almut und des alternden Literaturkritikers Erik Zondag. Nach dem eben Gesagten versteht es sich geradezu von selbst, dass der Roman in einem Flugzeug beginnt. Auf einem Flug nach Irgendwo begegnet ein Irgendwer einer Frau, die ein Buch liest. Es könnte John Miltons „Paradise Lost“ sein, ein Epos aus der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts, das zugleich vom Verlust des Paradieses und von einer auf Gott hin gedeuteten, sämtliche Natur- und Lebensphänomene umfassenden Welt- und Heilsordnung erzählt. In einem kurzen Zwischentext zitiert Nooteboom daraus jedenfalls ei-ne Passage, in der der „Engel mit dem Flammenschwert“, der die Rückkehr ins Paradies verhindert, immerhin die Vertriebenen Adam und Eva ins Jenseits von Eden geleitet:
„Drum nahm der Engel jetzt die zögernden / Verbannten bei der Hand, und führte sie / ans Gartenthor in Osten, und von dort / den Fels hinab ins Ebne, und verschwand.“ (S. 17) Nun springt Nooteboom - anspielend auf das Motiv der himmlischen Gottessöhne, die mit Menschenfrauen Kinder zeugen, sowie auf das Babylon- und andere Motive aus der Offenbarung des Johannes - unmittelbar hinein in die Welt außerhalb des Gartens Eden:
Die Kunsthistorikerin Alma, Spezialistin für Renaissance-Bilder musizierender Engel, zieht es in unverständlicher Sucht nach Paraisópolis. In dieser Favela, der grässlichen Slum-Vorstadt von Sao Paulo, fallen Männer „wie eine schwarze Wolke“ (S. 20) über sie her. So wird aus der jungen Frau, die besonders Botticellis Bild von der Engels-Verkündigung liebt, ein ‚gefallener Engel’. „Liegengeblieben wie ein weggeworfenes Stück Müll“ (S. 20) sucht sie, dem Inferno doch noch lebend entkommen, Vergessen und Erlösung von ihrem dramatischen Höllensturz in einer Liebeswoche mit einem Maler in Australien, der ein Aborigine ist. In der Hingabe an diesen Aborigine-ne, der kaum ein Wort sagt und eigentlich nur mit ihr schläft, kommt Alma wieder empor aus ihrer Erniedrigung. Sie entdeckt ein unbekanntes, aber immer schon ersehntes Jenseits außerhalb von Raum und Zeit. Über diese Teufelsaustreibung lässt Nooteboom Alma in Gedanken sprechen:
Lesung 1:
S. 21 und 22: „Eine Woche, hat er … wo sich alles bewegt und alles lärmt, um in dieser Stille anzukommen.“
Erzählerin 2:
Alma und Almut: Wer sind sie? Und was suchen sie, die eigentlich in Brasilien wohnen, in Australien? Ich erwähne kurz, was Nooteboom erst später erzählt: Alma hat einen deutschen Vater und eine brasilianische Mutter, von der sie etwas geheimnisvoll Indianisches geerbt zu haben scheint: einen „Schatten“, eine „Stimmung“ (S. 38). Almut dagegen „hat zwei Elternteile deutscher Herkunft.“ (S. 38) Ihr verdankt Alma immer wieder die Rückkehr „in die Welt“ (S. 29):
Lesung 2:
S. 38 „Almut hat das Chaos gebannt. … Massage, solche Dinge.“
Vorher schon werden – wieder in Worten Almas, die erklärt, warum sie in Australien ist – die beiden Frauen so porträtiert.
S. 23-25: „Almut ist schuld, dass ich hier bin. … Das kommt, weil du selbst fliegen können willst.“
Lesung 3:
Almut und Alma sind sich sehr nahe – trotz ihrer Unterschiede. Das wird deutlich an Almas Schilderung des Botticelli-Bildes in den Uffizien in Florenz, die uns zugleich näher an ein Grundmotiv des ganzen Romans heranführt:
S. 27-28: „Ein roter Fußboden aus rechteckigen Steinplatten ..... und das wusste Botticelli.“
8. Gemeindelied: EG 142,1-3 „Gott, aller Schöpfung heilger HERR...“
9. Erzählt und Vorgelesen
Erzählerin 3:
Australien ist also das geheimnisvolle Traumland der beiden Frauen, Ziel ihrer Paradieswünsche. Dorthin fliegen sie. Was sie dort erleben, kann heute nur in ganz groben Zügen dargestellt werden. Nooteboom gelingen wunderbare und eindringliche Schilderungen der australischen Wüste und des Lebens der Aborigines. Wir können nur empfehlen, diese selbst zu lesen.
Während Almut zunächst eine Arbeit als Physiotherapeutin auf-nimmt, erlebt Alma die Liebeswoche mit dem Aborigine, dem Maler, den sie auf einer Ausstellung seiner Bilder kennengelernt hat. Er darf über seine Bilder nicht sprechen. Sie bergen jahrtausendealte Geheimnisse. In der Begegnung mit diesem Menschen von seinem Geheimnis berührt, findet Alma einen neuen Platz in der Welt:
Lesung 4:
S. 44: „Ich bin der Stille gleich ... Wer hat bloß die Engel aus der Welt verbannt, obwohl ich sie noch immer um mich spüre?“
Alma erinnert sich an die Engelbilder aus der Renaissance und sagt dann zu sich:
S. 45: „Hier liege ich mitten in der Wüste … ich habe alles bei mir.“
Erzählerin 4:
Diese tiefe Empfindung aber, gleichsam die Wirklichkeit des Unaussprechlichen berührt zu haben, ja selbst ein Engel zu sein, bleibt ei-ne Momentaufnahme. Im Gespräch mit ihrem Geliebten für eine Woche bleibt offen, ob er selbst noch an die alten Mythen und Riten, die Traumzeit und die Traumwesen, die nirgendwo schriftlich fixiert und in keinem Buch zu finden sind, glaubt:
„’Glaubst du nicht mehr daran?’“ fragt Alma ihn. „’Wenn ich noch daran glauben würde, dürfte ich erst recht nichts darüber sagen.’ ‚Also glaubst du nicht mehr daran?’ ‚Das ist zu einfach.’“ (S. 47) So entzieht sich Alma das Geheimnis just in dem Augenblick, in dem sie ihm näher kommt. Offenbar bleibt dem Menschen das Paradies nur in seinem Verlust nahe.
Auf ihrer Weiterfahrt begegnen Alma und Almut einem Mann, Cyril Clarence, der ein Buch über Australiens Wüste und das Leben der Aborigines geschrieben hat. Er erzählt ihnen mehr von dieser anderen Welt. Aber er erzählt ihnen auch von ihrer Unzugänglichkeit und ihrem Untergang. Der Erzähler ist selbst einer von denen, die Alma gesucht hat: „durchscheinende Menschen“ (S. 56) Doch alles Anschauen und Wissen hebt das Nichtwissen nicht auf. Der Erzähler sagt zusammenfassend über die australischen Ureinwohner:
Lesung 5:
S. 59: „Ich finde sie schön, es ist das Alter ihrer Welt. ..... nach dem verlorenen Paradies.“
10. Gemeindelied: EG 142,4-6 „Mit Weisheit sind sie angetan...“
11. Erzählt und Vorgelesen
Erzählerin 5:
Der anschließende Besuch in einer Felsenlandschaft, die sechzig Millionen Jahre alt ist und in der sie zwanzigtausend Jahre alte Wandzeichnungen sehen, vermittelt Alma und Almut das Gefühl – ich zitiere: „Man ist sterblich und gleichzeitig unsterblich... Zeit ist ein Furz, ist viel kürzer und bedeutet vielleicht dasselbe.“ (S. 69) Die Vergangenheit kann anschaulich gemacht, aber nicht zurückgeholt werden. Wenn etwas für den Verlust des Paradieses steht, ist es die schnell vergehende Zeit. Alma spricht sich aber die Gabe zu, die Vergangenheit als Gegenwart in sich zu tragen.
Danach machen sich die beiden Frauen auf in die Stadt Perth an Australiens Westküste. Damit kehrt der Roman ganz in die datier-bare Zeit zurück, ins Jahr 2000, der einzigen Jahresangabe im ganzen Buch. Almut hat nämlich herausgefunden, dass es in Perth ein Literatur- und Theaterfestival gibt, für das Engel gesucht werden: Statisten, die als Engel auftreten.
Lesung 6:
S. 79-80: „’In einem Theaterstück?’ ‚Nein. Ich weiß nicht … der Adam und Eva aus dem Paradies vertreibt.
„Und wenn diese Leute uns dann finden? … Aber es wird gut bezahlt.’“
Lesung 7:
S. 81-83: „Jetzt bin ich also ein Engel ... das scheint manche Leute wahnsinnig anzutörnen.“
Erzählerin 6:
Abends im Hotel erinnert Alma sich an das Zurückliegende und spürt in sich eine Sehnsucht, für die sie keine Worte hat, von der sie aber weiß, dass sie für immer zu ihr gehören wird. Was sie dann zu sich selbst spricht, enthält Anklänge an die Offenbarung des Johannes, wo im 12. Kapitel von der Frau die Rede ist, die in die Wüste zieht und dort mit dem Drachen kämpft:
Lesung 8:
S. 84: „Ich will Almut noch nichts sagen … Ich kann überleben.“
12. CD-Einspielung Felix Mendelssohn Bartholdy:
„Er hat seinen Engeln befohlen...“ (aus Oratorium „Elias“)
13. Lesungen aus Cees Nooteboom: Paradies verloren
Erzählerin 7:
Nun vollzieht Cees Nooteboom einen abrupten Szenenwechsel. Erik Zondag, der alternde Kritiker, tritt ins Bild. Ich beschränke mich auf den Hinweis, dass er auf Drängen seiner Freundin Anja von Amsterdam in eine Kurklinik in Igls bei Innsbruck fährt. Es ist köstlich zu lesen, wie er die Reise erlebt und wie es in der Kurklinik zugeht. Er hat, um nur ein Beispiel zu nennen, „die Wahl zwischen Schafsjoghurt oder einem Klecks Ziegenquark mit Schnittlauch“. (S. 103) Mit viel Humor gelingt es Cees Nooteboom, eine bestimmte moderne Form der Rückkehrversuche ins Paradies, nämlich die Rückgewinnung verlorener Lebenskräfte und Lebenssäfte zu karikieren. Für unseren Zusammenhang ist aber diese Passage wichtig:
Lesung 9:
S. 114-116: „Engel, die gibt es nicht … Vielleicht schlief er sogar ein.“
Erzählerin 8:
Was war geschehen? Sein Verlag und seine Redaktion hatten ihn, Erik Zondag, nach Perth zu dem Literatur- und Theater-Festival geschickt. Bei der Engel-Performance hatte er Almut gesehen, die als Riesenengel mit einem Schwert auf einem Dach posierte. Und er war Alma begegnet, dem Engel im Schrank.
Diese Alma, dieser Engel ist es nun, der ihn in der Kurklinik massiert. Die Züge ironischer Brechung sind unverkennbar. Offenbar kann – nach dem Verlust des Paradieses – auch Ernstes und Tiefes nur in der Verfremdung erzählt werden. Bei der Massage erinnern Erik Zondag und Alma sich gemeinsam und erzählen sich, was sie jeweils nicht wussten, als sie in Perth waren. Vor allem will Erik Zondag, der sich in den Engel Alma verliebt hatte, wissen, warum sie so plötzlich verschwunden war. Zum Schluss des Engel-Festivals, das es ja wirklich im Jahr 2000 in Perth gegeben hat, gab es eine nächtliche Strandparty aller Statisten, die als Engel fungiert und posiert hatten. Dabei waren Alma und Erik sich sehr nahe gekommen. Aber durch das Auftauchen der Polizei wurde die unangemeldete und ungenehmigte Party abgebrochen – und Alma musste fliehen, weil sie keine Arbeitserlaubnis gehabt hatte. Auch diese Passage ist köstlich zu lesen. Wir beschränken uns aber auf Almas und Eriks letzten Dialog:
Lesung 10:
S. 149: „Ihre Hände strichen … etwas zu erwidern.“
Erzählerin 9:
Jenseits von Eden ist also alles Fortgehen. Jede Annäherung ist verbunden mit neuer Entfernung und wiederholtem Verlust.
Wie endet der Roman? In einem Epilog erzählt der ungenannte Ich-Erzähler vom Anfang, der Züge Erik Zondags trägt und zugleich Cees Nooteboom selbst sein dürfte, von einer Bahnfahrt nach Berlin. Wieder eine Reise.
Im Zugabteil begegnet dem Autor wieder die Frau, die schon im Flugzeug ein Buch las. Nun ist der Titel erkennbar: Miltons „Paradise-se lost“. Darüber geraten der moderne Autor und die Leserin ins Gespräch. Sie empfindet den Verlust des Paradieses als ein Missverständnis, das sich „bis ins Unendliche fortsetzt“ und für das „die Strafe eigentlich zu hart ist“ (S. 155) Am Schluss gibt die Frau dem Schriftsteller die alte Ausgabe von Miltons „Paradise Lost“, in der sie gerade gelesen und eine Passage unterstrichen hat:
Lesung 11:
letzte Seite: „Sie wandten sich noch einmal um, und sahen … auf ungewisser Bahn durch Eden hin.“
14. Gemeindelied: EG 432,1-3 „Gott gab uns Atem...“
Predigt
15. Predigt zu 1. Mose 2,15 (von Pastor Hans Joachim Schliep):
Liebe Gemeinde!
„Das kommt, weil du selbst fliegen können willst, sagt Almut.“ Die da fliegen können möchte - das ist ihre Freundin Alma: die geheimnisvoll-engelsgleiche junge Kunsthistorikerin mit dem „Engeltick“: „Raffael, Botticelli, Giotto, Hauptsache, es sind Flügel dran.“. Almut dagegen bleibt nüchtern und erdverhaftet. Aber eines verbindet die Freundinnen: die Sehnsucht nach ihrem Traumland. Für Alma kommt noch etwas hinzu: Sie sucht Reinigung und Heilung von Schändung und Verletzung. Beides findet sie in der Liebeswoche mit dem Aborigine. Und beide Frauen erleben in Australiens Wüste eine ungeahnte Weite und Tiefe: Raum und Zeit, wie berührt vom Unendlichen, Unvordenklichen, vom Ursprung von allem.
Aber auch diese Weite und Tiefe hat Grenzen. Die Liebesbeziehung von Alma zu dem Aborigine-ne-Maler ist von vornherein auf eine Woche befristet. Zudem hat dieser Mann etwas Undurchdringliches, Unzugängliches. Später erfahren Alma und Almut von der Größe, aber auch den Schattenseiten dieser Kultur, ihrer Verletzlichkeit und Endlichkeit. In Perth dann werden beide zu Engeln. Aber Alma zum Beispiel Muss in einen Schrank, am Boden liegen, schweigen. Und alles ist inszeniert, Performance, Pose, bisweilen Persiflage. Die Vertreibung aus dem Paradies findet immer wieder statt. In Perth kommt es zwar zu einer nachhaltigen Begegnung zwischen Alma und Erik Zondag und nach Jahren in Igls zu einem Wiedersehen. Aber wie schon die nächtliche Engel-Party am australischen Strand hat auch der paradiesische Moment in den Tiroler Bergen ein abruptes Ende. In der Kurklinik entzieht sich Alma ihm mit den Worten: „Engel gehören nicht zu Menschen.“ „Paradies verloren“: Sie alle werden ihre eigenen Gedanken dazu haben. Wenn ich Ihnen nun meine Deutung anbiete, lasse ich die Fülle der religiösen und kulturgeschichtlichen Anspielungen, mit denen Cees Nooteboom in jeder Szene arbeitet, beiseite. Sie wollen ja heute noch nach Hause kommen. Ich konzentriere mich auf die Frage: Wofür stehen Alma, Almut und auch Erik? Mein Eindruck: Sie repräsentieren moderne Menschen, für die der Himmel längst leer, aber die Frage nach dem Himmlischen umso bedrängender ist. Die nach ihrem Traumland suchen, nach Ursprung, Echtheit, Reinheit, Heiligkeit, nach dem eigentlichen, wahren Leben, nach dem auch, was Raum und Zeit, ja, ihr Selbst übersteigt und in dem sie sich dann endlich selbst finden können: nach Transzendenz, nach mystischem Erleben. Je stärker die Fessel der Immanenz, desto stärker der Wunsch nach Transparenz und Transzendenz.
Zum Beispiel Alma: Begeistert von Botticellis Engelsbild will sie ein Engel sein, der den Menschen mit Göttlichem berührt. Das ist in der Kunst möglich, bleibt aber Inszenierung - und damit unter dem Diktat der Immanenz. Just in dem Moment, in dem sich das Geheimnis der Welt ankündigt, verabschiedet es sich auch. Das vollzieht Cees Nooteboom bis in die Bild- und Wortwahl zwischen Geist und Gosse. Der Titel sagt es eben ganz genau: „Paradies verloren“. Es gibt kein Zurück in den Garten Eden, es sei denn im Kunstzitat. Manche Geschichten, das wusste schon Botticelli, bringen „noch nach zweitausend Jahren in einer Welt der Computer Glocken zum Läuten“. Oder in der Natur, in der Wüste, die Entschlackung und Entleerung erlaubt. Aber was füllt und erfüllt dann wirklich?
Es gibt Leben nur auf Erden, im Diesseits. Das kennt alle Sehnsüchte und jedes Glück. Da ist - in Kunst, Natur, menschlicher Begegnung - ein Hintergrundleuchten des Jenseitigen. Doch selbst in diesem Licht endet es in radikaler Diesseitigkeit. Alles bleibt Spiel, Szene, Reise. Statt „Reise in die Ewigkeit“ das Leben - ja, nicht einmal als ‚ewige’, sondern als andauernde Reise, auf der auch himmlische Unterbrechungen keinen Aufenthalt verschaffen. Wohl findet Erik Zondag seinen Engel wieder, doch an einem Ort, der eine Karikatur, eine Realsatire darstellt: in einer Klinik, wo archaische Paradies- als urmenschliche Lebenswunsch-Ekstasen in Wellness-Massagen enden. Dort kommt ihm der Engel sogleich wieder abhanden.
Cees Nooteboom, ein Meister des literarischen Schwebezustands, verwebt in „Paradies verloren“ - wie in allen seinen Büchern - so viele Fäden, dass jede einsinnige Deutung fehl geht. Aber wenn ich etwas Richtiges und Wichtiges getroffen haben sollte, kommt er der biblischen Botschaft recht nahe. Von etwas anderem als einem radikalen Jenseitsverlust und einer absoluten Diesseitigkeit des Lebens erzählt die Bibel auch nicht. Und doch - sie erzählt es anders:
„Und Gott der HERR nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte.“ So endet die Lesung aus dem Ersten Testament, die nicht wir ausgesucht haben, sondern die von der kirchlichen Tradition für heute gegeben ist. „Garten“ ist ein anderes Wort für den ursprünglich persischen Ausdruck „Paradies“: der umfriedete und gehegte Raum. Aber ein Traumland, wie es so Viele ersehnen, ist er nicht - und schon gar kein Schlaraffenland. Zwar ist von Flüssen, Gold und Edelsteinen und verlockend anzusehenden Bäumen, namentlich denen des Lebens und des Wissens, die Rede. Aber das ist auch alles. Und dieses alles ist dem Menschen zum Bebauen und Bewahren anbefohlen, zur hegenden Erhaltung und weitergehenden Gestaltung. Mit anderen Worten:
Das biblische Paradies ist Ort der Arbeit - und wird schnell zum Ort des Streites. Sie erinnern sich: das Kriechtier, die Frucht, die Frau, der Mann, der Ruf Gottes nach dem Menschen, das Versteckspiel, die gegenseitigen Schuldvorwürfe, die Scham - und dann die Ausweisung. Vor-her der Fluch über Schlange und Ackererde. Aber kein Fluch über die Erde als solche. Und kein Fluch über Eva und Adam, sondern Schmerzen und Schweiß und Endlichkeit als Rück-kehr zur Erde, aus der sie genommen sind - und Kleidung, von Gott selbst gefertigt, zum Schutz vor kalten Lebensstürmen. So gerät der Mensch unter die Erdenschwere, bleibt aber ein Begnadeter und Gesegneter. Es gibt kein Zurück. Das Paradies bleibt verloren. Aber Segen und Gnade bleiben erhalten - und so, erst so (!) kann das Leben beginnen. Dieses Leben ist begrenzt, beschwerlich und befremdlich, ja, von tiefen Entfremdungen gezeichnet. Aber aus-gewiesen ist der Mensch nicht aus einer schöneren Welt, sondern aus seiner träumenden Unschuld, in der er sich noch gar nicht wirklich als Mensch erfahren konnte, und eingewiesen in einen Lebensraum, in dem er Kultur gestalten und seine Freiheit entfalten kann.
Was also erzählt die Geschichte vom Leben im und außerhalb vom Garten Eden? Entgegen landläufiger Meinung kommen die Worte „Sünde“ und „Strafe“ hier gar nicht vor. Adam und Eva sind die Menschheit, die aus ihren noch vor-menschlichen Träumen befreit und über ihre Freiheit aufgeklärt ist. Sie ächzt und keucht unter den Folgen ihrer Freiheit, weil sie so oft in die Irre gegangen ist und ihre Freiheit missbraucht hat, aber sie kann diese Folgen tragen. So führt uns der biblische Mythos nicht in mystische Tiefen und Träume, sondern ins wirkliche Leben: So ist das Leben - und das ist der Mensch. Er hat das Paradies, er hat seine träumende Unschuld verloren - und ist doch kein Verlorener. Der wäre er erst, verlöre er die Erinnerung an Gott ganz, an den Gott, dessen Ebenbild er ist und der ihn weiterhin beauftragt, die Natur in Kultur zu verwandeln.
Cees Nootebooms Romanpersonen entkommen dem Bezug auf Transzendenz einfach nicht. Erik Zondag wird immer wieder einem Engel begegnen: „Till next time then, right?“ Insofern kommt der Roman der Bibel durchaus nahe, auch im illusionslosen Erfassen des wirklichen Lebens jenseits von Eden, des tatsächlichen Menschseins also im Diesseits. Sollte Nooteboom nur eine bis ins Letzte säkularisierte und profanisierte Garten-Eden-Geschichte geschrieben haben? Doch bei mancher Nähe gibt es einen grundlegenden Unterschied. Jedenfalls werde ich den Eindruck nicht los, dass der Engel Alma ein Engel kraft eigener Vollmacht ist. Die ganz wenigen Stellen, an denen die Bibel alte Engelsmythen aufnimmt, zielen aber weder auf die Menschwerdung der Engel noch die Engelwerdung des Menschen. Ein Engel war der Mensch nie. Er war nie etwas anderes als Mensch.
Wer deshalb im Sinne der Bibel ein Engel sein wollte, müsste einen Auftrag haben, eine Botschaft. Denn die biblischen Engel sind die personifizierte Botschaft, das gestaltgewordene Wort Gottes. Sie bleiben selbst unanschaulich, nicht weil sie mythische, mystische oder sonst wie mysteriöse Wesenheiten zwischen Himmel und Erde wären, sondern einzig weil sie Träger einer Botschaft sind und diese anschaulich, sprich: hörbar machen sollen. In dieser Botschaft kommt Gott auf den Menschen zu. Einzig Gott transzendiert den Menschen. Zwar vermag der Mensch über sich selbst hinauszufragen und insofern sich selbst zu übersteigen. Am Ende aber stoßen alle diese Versuche an eine unüberwindliche Grenze. Denn der Mensch, der mehr sein will als Mensch, ist allemal weniger als Mensch, weil er sich anderes Leben unterwirft und gefügig machen will und im Missbrauch seiner Macht lauter Ohnmächtige schafft.
Kann es eine Transzendenz ohne Gott geben? Ohne Gott bleibt doch jeder „Himmel“ leer. Oh-ne Gottesbezug bleibt menschliches Leben eindimensional, nur bei sich selbst, eine einzige Selbstbeschäftigung. Auch die Kunst ist nur dann wirklich göttlich, wenn sie von Gott ergriffen ist. Das schmälert keineswegs das Wunder der Kunst, die erkennen lässt, wie der Mensch über sich selbst hinausfragt. Kunst ist so wunderbar, dass sie unser „interesseloses Wohlgefallen“ (Immanuel Kant) erregt. Insofern weist sie über uns selbst hinaus. Aber sie erreicht niemals Gott - es sei denn, Gott erreiche durch die Kunst uns.
Will der Autor etwa von Gott sprechen? Ich denke, nicht. Denn von Gott fällt kein einziges Wort. Warum auch?! Es reicht doch, wenn er uns das Wunderbare der Kunst vor Augen führt - in all ihrer Begrenztheit und Endlichkeit und bar jeder Illusion, sie könne ins Paradies zurückführen. Mir scheint, in „Paradies verloren“ bestätige Nooteboom die These und begrenze sie zugleich, Transzendenz gebe es heute nur noch in der Kunst, die Sammlung kunstvoller Inszenierungen alter Geschichten sei die einzige Schatztruhe für Geheimnisse, wie sie uns in Engeln berühren. In meiner Sicht stellt sich damit - gerade unter leerem Himmel - die Frage nach Gott, nach dem wahren Grund und der wahren Tiefe des Lebens wieder neu.
Ganz am Schluss des Buches, auf der Zugreise nach Berlin, bittet der Autor die Frau, die Miltons „Paradise Lost“ liest und alles für ein „Missverständnis“ und die „Strafe für zu hart“ hält, ihm einen Schluss für seinen eigenen Roman zu liefern. Sie sagt: „’Haben Sie mal über denjenigen nachgedacht, der das Paradies erfunden hat? Einen Ort ohne Missverständnisse? Bei der maß-losen Langeweile, die dort herrschen muss, kann es sich nur um eine Strafe handeln. So etwas kann nur einem sehr schlechten Schriftsteller einfallen.“ Wie ist das zu verstehen? Die biblische Garten-Eden-Geschichte kann eigentlich nicht gemeint sein. Denn die Geschichte vom erwachenden Menschsein durch und im Gegenüber zu Gott ist doch hochspannend und keineswegs langweilig. Es handelt sich auch weder um ein Missverständnis noch um eine Strafe, sondern um das Menschsein, wie es ist: um den Menschen in seiner endlichen Freiheit, der diese gerade dann nicht hätte, wenn er unendlich wäre. Denn nur weil unser Leben endlich ist, hat jeder Augenblick seinen eigenen Wert. Dagegen sind Augenblicke, die sich unendlich und immer gleich aneinanderreihen, kein Himmel, sondern eine Hölle, weil alles gleich-gültig ist.
Im Blick darauf will uns die Bibel ja in eine ganz andere Geschichte verwickeln: in die Geschichte Jesu Christi. Die kommt ohne solche Engelwesen aus, die ans Paradies erinnern, nur um uns gleichzeitig auf dessen Verlust zu stoßen und auf ein Verlorensein auf ewig, das uns nur noch Paradiesträume, nur noch das große unbestimmte Heimweh übrig lässt. Denn kraft der Lebenshingabe Jesu Christi sind wir auch unter leerem Himmel von Liebe umgeben. Die gibt uns niemals auf und weist uns niemals zurück. In ihr haben wir eine Heimat, die uns nie wieder verloren geht. Mehr können wir in keinem Paradies finden. Amen.
Abkündigungen/Fürbitten/Sendung/Segen
16. Gemeindelied: EG 143,1-4 „Heut singt die liebe Christenheit...“
17. Kurze Ansagen
18. Fürbittgebet mit Vaterunser
19. Sendung und Segen
20. Gemeindelied: EG 467,1-4 „Hinunter ist der Sonne Schein...“