1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland

Liebe Leserin! Lieber Leser!

Jc Christlicher Glaube, Religionen

Landgraf, Michael: Schalom Martin. Eine Begegnung mit dem Judentum. Wiesbaden: Marix 2007. 223 S.: Ill. ; 21 cm. ISBN 978-3-86539-108-7A, geb.: 9,95 €

Über seinen jüdischen Freund David lernt Martin dessen Cousine Mirjam kennen, die in Israel lebt. In Begegnungen, Briefen und gemeinsamen Unternehmungen lernt Martin viel über das Judentum.

In dem Buch wird sehr sorgfältig und solide jüdisches Leben und jüdische Geschichte vermittelt. In der Geschichte von den drei Fünftklässlern kommt dabei die Gegenwart nicht zu kurz. Stolpersteine und eine beängstigende Begegnung mit Neonazis gehören ebenso dazu wie Besuche in der Synagoge, eine Reise nach Israel und Teilnahme an jüdischen Feiern in der Familie. Unter der Fülle der guten Informationen leidet leider die Story; man merkt ihr das „pädagogisch gewollt“ an, auch die Sprache verliert oft den Kontakt zur Realität der 11-12-Jährigen. Der für Brieftexte gewählte Schrifttyp ist ungünstig, während der Fließtext gut lesbar ist. Eine Zeittafel, ein ausführliches Glossar und viele Literaturhinweise deuten an, dass dieses Buch für den Unterricht in Schulen und Gemeinden gut zu nutzen ist. Die eingestreuten Fotos und Zeichnungen haben gute Motive, aber leider eine recht schwache Bildqualität, was wohl dem relativ günstigen Preis geschuldet ist.

Trotz der genannten Schwächen kann ich dieses Buch empfehlen, wenn man gutes historisches und gegenwartsbezogenes Wissen zum jüdischen Leben und Glauben auf leichte, aber nicht oberflächliche Art bekommen will.

Signatur: Jc
Schlagworte: Judentum | Israel
Bewertung: ++
Rez.: Brigitte Messerschmidt

Lena feiert Pessach mit Alma. Myriam Halberstam. Ill. von Julia Späth. Überarb. Ausgabe Berlin: Ariella 2021. O. Pag. : überw. Ill. ; 22 cm. ISBN 978-3-945530-35-1, geb.: 12,95 €

Lena wird von ihrer Freundin Alma zum Pessach-Fest eingeladen.

Lenas neue Freundin Alma hat sie eingeladen, mit ihrer Familie das Pessach-Fest zu feiern. Bereits am Vorabend des Festes geht es los. Lena hilft beim großen Frühjahrsputz, kein Krümel Brot oder Gebäck darf mehr im Haus sein. „Wir dürfen an Pessach acht Tage lang kein Bot oder Kuchen essen“, erklärt die kleine Schwester.
Am Abend des Festtages versammelt sich dann die ganze Familie zum Seder, dem Pessach-Abendmahl, um den Auszug der Kinder Israels aus Ägypten zu feiern. In exakt vorgeschriebener Reihenfolge werden nun Speisen gegessen und erklärende Texte aus der Haggada vorgelesen.
Auch eine lustige Schatzsuche für die Kinder gibt es und Lena findet schlussendlich: „Mit euch Pessach zu feiern hat großen Spaß gemacht“.
Im Anhang findet sich das Manischtana-Gebet, in Lautschrift, auf Deutsch übersetzt sowie original Hebräisch.
Auf spielerische und kindegerechte Weise lernen Kinder hier eines der wichtigsten Feste des Judentums kennen.

Sehr empfohlen für Kita, Schule oder Kindergottesdienst, z. B. für ein Projekt „So feier ich - wie feierst du?“.

Signatur: Jc
Schlagworte: Judentum | Pessach | Feiern | Rituale
Bewertung: +++
Rez.: Maike Linne

Ein Pferd zu Channukka. Myriam Halberstam. Ill. von Nancy Cote. Berlin: Ariella 2010. O. Pag. : überw. Ill. ; 23 cm. ISBN 978-3-9813825-0-1, geb.: 12,95 €

Ein Bilderbuch über alle Bräuche des Channukkafestes als Geschichte eines Traumes erzählt.


Es ist Zeit, dass wir solche Bücher haben: Bücher, die selbstverständlich Bräuche und Überlieferungen des Judentums als lebendige Religion unserer Zeit und unseres Landes erzählen. Dieses schöne Bilderbuch lädt ein, Channukka kennen zu lernen, seine schönen Riten über acht Tage (ungefähr in unserer Advents- bzw. Weihnachtszeit gelegen) zu entdecken. Es ist kindgemäß. Schöne Bilder laden zum Betrachten ein. Ganz normal kommt die junge Familie mit zwei Kindern daher. Ganz und gar typisch ist der Wunsch des kleinen Mädchens, zu Channukka endlich ein Pferd geschenkt zu bekommen. Aber was wird alles geschehen, wenn der Wunsch in Erfüllung geht? Wird das Pferd die traditionellen Speisen mögen oder gar mit einem Mal wegschnappen? Wird es im Zimmer nach Pferdeäpfeln riechen? Geht gar Spielzeug kaputt, mit dem die ganze Familie ein typisches Spiel der Channukkazeit spielen will? Schön! Das offensichtlich Bemühte, das solchen Büchern über den religiösen Alltag leicht anhaftet, ist nebensächlich.

Gut geeignet für Kinderkirche, Konfiunterricht, gern auch mit Erwachsenen.

Signatur: Jc
Schlagworte:
Channukka | Judentum | Riten | Familie
Bewertung: +++
Rez.:
Christiane Thiel

C Christlicher Glaube, Religionen, religiöse Weltanschauungen

Kaufmann, Thomas: Luthers Juden. 2., durchges. Aufl. Stuttgart: Reclam 2015. 203 S. : Ill. ; 20 cm. ISBN 978-3-15-010998-4, geb.: 22,95 €

Kaufmann historisiert Luthers Aussagen zu den Juden und beschreibt deren Wirkungsgeschichte bis in das 20. Jahrhundert.

Nach einem Jahr ist die zweite durchgesehene Auflage erschienen. Kaufmann schildert Begegnungen Luthers mit Juden. Luthers Äußerungen zu den Juden werden in den Zeithorizont und Luthers Leben eingebettet. Das macht sowohl frühe "freundliche" Aussagen über Juden als auch "Luthers böse Schriften" verständlich. "Luthers Juden" sind eine Konstruktion, die sich aus Phantasie, Angst, landläufigen Ressentiments, alttestamentlichen Auslegungstraditionen, biographischen Ereignissen, Misstrauen, Enttäuschung über mangelne Bekehrungen speist. Die Wirkung der schlimmen Spätschriften zu den Juden im 20. Jahrhundert beschämt. Kaufmann denkt mit Luthers Aussagen, in denen dieser sich selbst relativiert ("Wir sind Bettler."), gegen Luther. Damit öffnet er ein kritisches Verhältnis zu dem ungeheuren Mann Luther, der eben ein Mensch ist, und kann ihn besser verstehen, als er sich verstanden hat.

Kaufmanns differenziertes und kluges Buch gehört in die Hände aller Lutherinteressierten.

Signatur: Cc 1
Schlagworte:
Juden | Antisemitismus | Reformation
Bewertung: +++
Rez.:
Martin Schulz

Ju 2 Erzählungen für das zweite Lesealter (9-12 Jahre)

Behnke, Andrea: Die Verknöpften. Ill. von Inbal Leitner. Berlin: Ariella 2021. 157 S. : Ill. ; 22 cm. ISBN 978-3-945530-33-7, geb.: 14,95 €

Die Kinder Liselotte, Minna, Leon und Hildegard erfahren 1938, wie die Judenfeindlichkeit ihr Leben verändert.

Anfangs kann nichts die Schulkinder Liselotte, Minna, Leon und Hildegard aus Bochum auseinanderbringen. Sie sind durch Freundschaftsbänder miteinander verknüpft. Eines Tages müssen die Mädchen hilflos zusehen, wie Leon von zwei Buben der Hitlerjugend mit einem Hockeyschläger verletzt wird, weil er jüdischen Glaubens ist. Auf einmal will Hildegards Mama nicht mehr, dass ihre nicht-jüdische Tochter sich mit den anderen „Verknöpften“ trifft. Minna und ihre Familie wandern aus, die jüdische Schule wird geschlossen, Liselottes Eltern werden von Nazis gequält. Nur die Lehrerin Fräulein Hirschberg erweist sich als Fels in der Brandung. – Im Nachwort erfährt man, dass die Geschichte einen wahren Kern hat, dass 1938 in Bochum wirklich die Lehrerin Else Hirsch in der jüdischen Schule unterrichtete und wo ihre Spuren hinführen. Ein Glossar erklärt jiddische Wörter und Begriffe aus dem Buch, beeindruckende Illustrationen verstärken die Wirkung des Textes. Anspruchsvoll, nötig und aufwühlend!

Das bewegende Buch für reife Kinder ab 11 Jahren sollte in Begleitung Erwachsener angeboten werden. So ist garantiert, dass niemand vom Schicksal der Protagonisten erdrückt wird.

Signatur:
Ju 2
Schlagworte: Judenverfolgung | Freundschaft | Gewalt
Bewertung: +++
Rez.: Martina Mattes

Kupfer, Bettina: Drei Steine für Betty. Berlin: Jacoby & Stuart 2018. 192 S. ; 22 cm. ISBN 978-3-946593-64-5, geb.: 15,00 €

1940 – 2017: Jüdische Familiengeschichte um die seit 1940 vermisste Schwester der Oma, die die Enkelin heute sucht.

Oma Minnie in Israel will zunächst nicht zur Bat Mitzwa ihrer 13-jährigen Enkelin Amit nach Frankfurt kommen, gibt ihr aber zum Verständnis ihr Tagebuch, das sie vom 10.9.1940 in Nürnberg bis zum 3.7.1949 im Kibbuz führte, mit. Die Geschichte verknüpft Gegenwart und Vergangenheit: Hier lebt Amit mit kleinem Bruder, Eltern, Kusine und Nachbarfreund, dessen syrischer Vater gerade seine flüchtenden Eltern sucht. In den Zeilen ihrer damals gleichaltrigen Oma liest sie von der Abholung der Großeltern 1940, der Rettung Minnies und des Bruders Kurt durch das arische Dienstmädchen Alma und Flüchtlingshelfer über Frankreich in die Schweiz. Kurt stirbt auf der Flucht. Doch Minnie sucht immer noch die damals einjährige Schwester Betty, die bei Alma blieb. Amit fühlt sich verantwortlich und sucht mit Freunden – erfolgreich – Betty, wobei ihr Bruder in Gefahr gerät. Der spannende Erzählstil konzentriert sich auf das persönliche Erwachsenwerden Amits und auch die Gefühlswelt ihres Umfelds.

Tagebuch als Roman-Transportmittel gut, sonst unglaubwürdig. Regt an zum Gespräch über jüdisches Leben einst und jetzt sowie über das Thema „Flucht“. Besonders für Schulbüchereien. Mit Glossar.

Signatur: Ju 2
Schlagworte:
Holocaust | Flucht | Freundschaft | Judentum
Bewertung: ++
Rez.:
Delia Ehrenheim-Schmidt

 

Ju 3 Erzählungen für Jugendliche ab 13 Jahren

Gruenbaum, Michael u. Hasak-Lowy, Todd: Wir sind die Adler. Eine Kindheit in Theresienstadt. Dt. von Jan Möller. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verl. 2018. 345 S. : Ill. ; 19 cm. Aus d. Engl. ISBN 978-3-499-21807-1, kt.: 9,99 €

Eine Kindheit in Theresienstadt.

Ein Buch als Brücke um zu verstehen, wie jüdische Kinder 1939 bis ’45 lebten, um „Leser anzusprechen, die das gleiche Alter haben, wie ich damals“: Absicht von Mischa Gruenbaum. Dank der Mutter, der es mehrfach gelang, mit ihm und der Schwester den Transporten zu entkommen, überlebte er das KZ. Der Text ist von Todd Hasak-Lowy, der aus Mischas Perspektive schreibt, vom 11.3.1939 bis zum 17.12.1945. Nicht nur Fakten, sondern Gedanken, Gefühle des 8- bis 15-Jährigen, der das durchlebte, vermittelt er authentisch, beim Anblick des Suizid-Pärchens am Tag des Wehrmachts-Einmarsches ebenso wie bei Fußballfreuden. Ab 1942 sind die drei in Theresienstadt, Mischa in einem Zimmer mit 40 Jungen. Franta ist der Mentor der jungen Nešarim (hebr. Adler), der zur Pflicht mahnt „als Menschen zu überleben“. Arbeit, Hunger, Angst vor Transporten, Trauer über Abtransportierte, Menschengerippe, die 1945 freikommen: gut lesbar, eindrücklich erzählt.

Transportdokumente, Briefe, Fotos und ein umfangreiches Nachwort ergänzen dieses Werk – unbedingt empfohlen, nicht nur für Schulbibliotheken (ca. ab 15 J.), auch für Gesprächskreise.

Signatur: Ju 3
Schlagworte:
Holocaust | Theresienstadt | Konzentrationslager | Biografie
Bewertung: +++
Rez.:
Delia Ehrenheim-Schmidt

Jünger, Brigitte: Der Mantel. Wien: Jungbrunnen 2019. 203 S. ; 22 cm. ISBN 978-3-7026-5932-5, geb.: 17,00 €

Die 14-jährige Französin Fanette verfolgt nahe Köln die Spuren einer jüdischen Familie in Nazi-Deutschland.

Seit Jahren ist die Pariserin Fanette mit dem betagten Aron Schatz befreundet. Er findet es gut, dass die 14-Jährige sich bei einem Schüler-Auslandsaufenthalt seine Heimat Deutschland ausgewählt hat. Fanette darf einige Wochen in der Nähe von Köln verbringen; in ihrem Gepäck hat sie einen siebzig Jahre alten Zettel, auf dem steht: „Ein schwarzer Damenmantel zur Aufbewahrung“. Sie recherchiert, findet das Kleidungsstück und trifft Leute, welche nicht nur Aron Schatz gekannt haben, sondern auch die Dame, für die der Mantel angefertigt wurde. Der alte Herr wird inzwischen von Fanettes Schulfreund Mohammed alias Moumouche betreut. Die Freundschaft zwischen dem alten jüdischen und dem jungen muslimischen Franzosen könnte fruchtbarer nicht sein. Auf ebenso kunstvolle wie einzigartige Weise werden hier anhand eines Mantels die Schicksale von Juden und Nicht-Juden in Nazi-Deutschland so erzählt, dass junge wie ältere Leser*innen gebannt in die Geschichte eintauchen werden. Prädikat besonders wertvoll!

Ein in jeder Beziehung beeindruckendes Jugendbuch, dem man viele Preise und Ehrungen wünscht. Auch als Klassenlektüre ab der 9. Klasse ein großer Gewinn.

Signatur: Ju 3
Schlagworte: Zweiter Weltkrieg | Generationen | Rassismus | Religion
Bewertung: +++
Rez.: Martina Mattes

Pressler, Mirjam: Dunkles Gold. Roman. Weinheim: Beltz & Gelberg 2019. 331 S. ; 22 cm. ISBN 978-3-407-81238-4, geb.: 17,95 €

Jüdische Geschichte am Beispiel zweier Familien aus Erfurt: heute und im 14. Jahrhundert.

Ausgangspunkt des einfühlsamen Jugendromans ist der Fund eines Goldschatzes aus dem 14. Jahrhundert in Erfurt, der einer jüdischen Familie zugeschrieben wird. Auf zwei Zeit- und Erzählebenen berichten davon zwei Mädchen als Ich-Erzählerinnen. Laura lebt heute in Erfurt, ihre Mutter hat sich als Historikerin intensiv mit dem Schatz beschäftigt. Da sie eine talentierte Zeichnerin ist, entwickelt Laura eine Graphic Novel über die Geschichte der ebenfalls 15-jährigen Rachel, die mit ihrem Vater das gesamte Vermögen vergräbt und sich mit ihm und ihrem Bruder vor den Judenpogromen auf den gefahrvollen Weg nach Polen macht. Auf diese Weise gelingt es der im Januar 2019 verstorbenen Autorin in ihrem letzten Roman großartig, jüdisches Leben im Mittelalter anschaulich darzustellen, aber sie erzählt auch von Judenhass und Verfolgung - durch die Jahrhunderte hinweg bis in unsere heutige Zeit - und von der ersten Liebe. Es gelingt ihr ein eindrucksvolles Plädoyer für gegenseitige Toleranz.

Ab 14 Jahren, lesbar sowohl als Buch über jüdisches Leben und Geschichte als auch als moderne  Liebesgeschichte.

Signatur: Ju 3
Schlagworte: Judentum | Judenverfolgung | Antisemitismus | Liebe
Bewertung: +++
Rez.: Gabriele Güterbock-Rottkord

Werner, Julia C.: Um 180 Grad. Stuttgart: Urachhaus 2020. 303 S. ; 21 cm. ISBN 978-3-8251-5237-6, geb.: 18,00 €

Die erste Liebe im Kontrast zum Verfall im Altenheim, verknüpft mit dem Grauen des Holocaust - berührend und einfühlsam!

So sehr mich das Buch am Anfang Geduld gekostet hat, so sehr habe ich gegen Ende Rotz und Wasser geheult! Lennard betritt das Altenheim, dessen graubraune Tristesse es wie einen Bunker wirken lässt, voll Widerwillen. Die allgegenwärtige Hinfälligkeit stößt ihn ab, er fühlt sich an diesem freudlosen Ort genauso wenig wohl wie in seinem pubertierenden Ich. Er muss für ein Jahr Sozialstunden bei der alten, schwerkranken Frau Silberstein ableisten. Einziger Lichtblick: Lea, das Mega-Mädchen, das jede zweite Woche auch da ist. Nur wegen ihr hält Lennard durch. Mit der Zeit entsteht da aber etwas zwischen ihm und dieser zer- und gebrechlichen alten Dame. Er liest ihr vor, sie erzählt ab und zu von ihren furchtbaren Erlebnissen während der Zeit im KZ. Das tiefe Grauen sitzt ihr noch heute als unbezwingbare Kälte in allen Knochen. Als Lennard an seine Grenzen kommt, fängt seine Familie ihn auf. Die zarte Liebesgeschichte zu Lea verleiht dem Geschehen immer wieder erholsame Leichtigkeit.

Auch ohne den Bezug zum Holocaust wäre dies ein wichtiges Buch zum Thema Alter, Sterben und Tod. Für Jugendliche ansprechende Sprache und Identifikationsmöglichkeiten machen es mit dem Informationsteil zum Holocaust unentbehrlich für unsere Büchereien!

Signatur: Ju 3
Schlagworte:
Lebensende | Holocaust | Erste Liebe | Familie
Bewertung: +++
Rez.:
Katja Henkel

SL Romane, Erzählungen, Dramen, Lyrik - Belletristik

Altaras, Adriana: Die jüdische Souffleuse. Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2018. 202 S. ; 21 cm. ISBN 978-3-462-05199-5, geb.: 20,00 €

Adriana Altaras passierten Geschichten, die müssen weiter erzählt werden. Unbedingt. Humor und Shoa. Wie meschugge!

Die bekannte Autorin kann Geschichten erzählen. Da verschlägt es der Leserin die Sprache, so wie es der Erzählerin immer wieder wort- und witzreich die Sprache verschlägt. Sie verwebt ihre Lebensgeschichte mit denen anderer, die ihr ihre Geschichte anvertrauen. Meist sind Grauen und Schrecken der Shoa nah. Oft das Leid ganzer Familien, weltweit verstreute Schicksale. Aber ganz ohne erdrückendes Gehabe, eher mit viel Esprit. Zum Ende zu fügt sich alles ins Gute und Island ist eine schöne Insel. Der Vulkan lebt und der Flugverkehr kommt zum Erliegen. Gibt es etwa Ähnlichkeiten zwischen Isländern und Jüdinnen? Die Souffleuse bei der Oper in irgendeiner westdeutschen Stadt hat es allen mit ihrer traurigen Ausstrahlung angetan. Für Altaras wird sie erst zur Qual, dann zur Obsession, zuletzt zur Freundin. Die Geschichte eines Mitglieds des Auschwitzer Sonderkommandos führt über Düsseldorf nach Kanada, Island, Israel. Dass auch die Welt der Oper in den Blick kommt, ist wunderbar lehrreich.

Historisch interessierte Lesende, Menschen mit Lust am jüdischen Witz und Interesse für die Folgen des Holocaust bis heute.

Signatur: SL
Schlagworte: Oper | Verantwortung | Liebe | Familie
Bewertung: +++
Rez.: Christiane Thiel

Bergmann, Michel: Die Teilacher. Roman. 1. Aufl. Zürich: Arche 2010. 284 S. ; 21 cm. ISBN 978-3-7160-2628-1, geb.: 19,90 €

Im Frankfurt am Main der Nachkriegsjahre kämpft eine Gruppe überlebender Juden um einen Neuanfang in Deutschland.

Alfred Kleemann hat seinen Onkel David Bermann, den „gnadenlosen Optimisten", sehr geliebt. Auf dessen Beerdigung im Jahre 1972 trifft er in ihrem Stammcafé die noch lebenden Freunde seines Onkels. Die Erinnerung der alten Männer an das gemeinsame Leben in Frankfurt 1946 läßt das Schicksal des Onkels noch einmal lebendig werden. David Bermann, Jossel Fajnbrot, Emil Verständig und die anderen hatten die Konzentrationslager überstanden - oft als einzige ihrer Familien - und waren zu ihrem eigenen Erstaunen nach Frankfurt ins Land der Täter zurückgekommen. Alle wurden Teilacher, Handelsvertreter, und verkauften, oft unter aberteuerlichen Umständen mit Einsatz und Chupze, ihre Waren. Dabei mussten sie mit noch vorhandenen Vorurteilen der Frankfurter und ihren eigenen Traumata fertigwerden. Spannend und lebendig geschrieben, erweckt das Buch Emotionen zwischen Weinen und Lachen.

Sehr zu empfehlen ist dieses informative, im besten Sinne tragisch-komische Buch. Jüngere und ältere Menschen werden unterschiedliche Zugänge haben, aber alle wird es anrühren.

Signatur: SL
Schlagworte: Nachkriegszeit | Frankfurt
Bewertung: +++
Rez.: Helga Westerholz

Biller, Maxim: Sechs Koffer. Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2018. 197 S. ; 20 cm. ISBN 978-3-462-05086-8, geb.: 19,00 €

Ein düsteres Familiengeheimnis beeinflusst das Leben der russisch-jüdischen Familie des Autors bis in die Gegenwart.

In Maxim Billers Familie gibt es ein Geheimnis, das über zwei Generationen nicht aufgeklärt wird. Denn jeder der vier Söhne und ihre Ehefrauen hätten den Großvater verraten können, der wegen Schwarzhandels 1960 in der Sowjetunion hingerichtet wurde. Bis in die Enkelgeneration beeinflusst die nie aufgeklärte Denunziation das Miteinander der Familienmitglieder, die trotz räumlicher Entfernung alle miteinander verstrickt sind. Aus sechs Perspektiven, auch seiner eigenen als Kind und als Jugendlicher, erzählt Biller die wechselhafte und spannende Geschichte seiner russisch-jüdischen Familie in Moskau und auf der Flucht über Prag nach Hamburg und Zürich. Distanziert, doch mit wohlwollendem humorvollem Blick auf die menschlichen Schwächen seiner Figuren entsteht ein literarisches Familienporträt, in dem niemand mehr dort zu Hause ist, wo er aufwuchs und alle durchs Leben getrieben werden. Auch Billers Schwester Elena Lappin hat die Familienbiographie 2017 literarisch bearbeitet.

Für anspruchsvolle Leser mit Interesse an zeitgeschichtlichen Themen oder am Autor. Für die Diskussion in Literaturkreisen sehr gut geeignet. Auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2018.

Signatur: SL
Schlagworte: Familie | Biographie | Prag | Exil
Bewertung: ++
Rez.: Birgit Hillmer

Boschwitz, Ulrich Alexander: Der Reisende. Roman. Hg. und mit einem Nachwort von Peter Graf. Stuttgart: Klett-Cotta 2018. 301 S. ; 20 cm. ISBN 978-3-608-98123-0, geb.: 20,00 €

1938 nach Pogromen verfasst, nun erstmals publiziert: Judenfeindlichkeit im Alltag aus Sicht eines jüdischen Reisenden.

Verfasst im Exil 1938, jetzt erstmals in Deutschland veröffentlicht: Autor ist ein 23-jähriger deutscher Jude, auf einem britischen Schiff 1942 von Deutschen versenkt. Das Unmittelbare ist hier das Bemerkenswerte. Boschwitz beobachtet 1938 genau, wie „normal“ bereits das Denken und Handeln gegenüber Deutschen jüdischen Glaubens ist: Ob grober Hauskäufer, der die Notlage ausnutzt, aber sich zusammenschlagen lässt, als Otto Silbermann nach den Pogromen 1938 abgeholt werden soll, die Nachbarin, die zur Gewissensberuhigung feststellt „Ihnen wird man niemals etwas tun“ oder der Hotelleiter, der verlegen den Stammgast rausschmeißt – Boschwitz charakterisiert viele, auch Juden. Silbermann muss sein Geschäft dem erpresserischen „arischen“ Prokuristen und Weltkriegs-Kameraden, überlassen. Die „arische“ Ehefrau ist in Sicherheit, der Sohn in Paris kann keine Visa besorgen. Silbermann reist pausenlos wie ein Gejagter im Zug durchs Land. Der Leser spürt die Verzweiflung.

Hervorragendes Zeitdokument und hervorragende Literatur.

Signatur: SL
Schlagworte: Judenverfolgung | Drittes Reich | Literatur
Bewertung: +++
Rez.: Delia Ehrenheim-Schmidt

Herzberg, André: Was aus uns geworden ist. Roman. Berlin: Ullstein 2018. 237 S. ; 21 cm. ISBN 978-3-550-08164-4, geb.: 22,00 €

Roman über das Leben von sechs Nachfahren jüdischer Eltern in der DDR.

Der Autor, selbst jüdischer Herkunft und in der DDR aufgewachsen, lässt sechs unterschiedliche Protagonisten zu Wort kommen, allesamt Kinder von Holocaust-Überlebenden. Sie ringen um ihre Identität und müssen sich sowohl mit der Geschichte und den Traumata ihrer Eltern und Großeltern auseinandersetzen wie auch ihren Weg und ihren Standpunkt in dem neuen sozialistischen Staat suchen. Jakob wird von der jüdischen Gemeinde abgelehnt, sucht angesichts des Verstummens der Mutter über die im KZ verstorbene Großmutter nach seinem Ich in der Musik und kann erst nach dem Tod der Mutter, als er die Briefe der Großmutter liest, zu seinem Jüdischsein finden. Richard lässt seine jüdische Herkunft weitestgehend hinter sich und wird ein bedeutender Politiker im SED-Staat. Die Kapitel sind abwechselnd jeweils einem Protagonisten zugeordnet, was es zunächst schwer macht, ihrer Entwicklung zu folgen. Der Erzählstil ist eher knapp und karg gehalten, so dass die Personen mitunter fremd bleiben.  

Das Buch ist für Büchereien mit einer großen Abteilung für zeitgenössische Romane und Biographien geeignet.

Signatur: SL
Schlagworte: Holocaust | Identität | DDR | Judentum
Bewertung: +
Rez.:
Anne Rank

Salzmann, Sasha Marianna: Außer sich. Roman. Berlin: Suhrkamp 2018. 364 S. ; 19 cm. (suhrkamp taschenbuch 4926). ISBN 978-3-518-46926-2, kt.: 12,00 €

Generationenübergreifender Roman über Ich-Auflösungen und eurasische Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Dieser Roman ist nicht leicht zusammenzufassen. Die Erzählung, die Autor*in Sasha Marianna Salzmann den Leser*innen präsentiert, umfasst mehrere Generationen, Länder und Erzählperspektiven. Geografisch umspannt das Werk Russland, Deutschland und die Türkei, zeitlich den Beginn des 20. Jahrhunderts bis heute. Erzählungen verschiedener Figuren, die alle etwas miteinander zu tun haben, werden verschränkt, teils in der Er-, teils in der Ich-Perspektive. Geschlechtergrenzen verschwimmen, nicht zuletzt ist „Außer sich" nicht nur ein Familien- und Geschichts-, sondern auch ein Identitäts-Roman. Das Erzählte verschwimmt ebenso wie die Grenzen zwischen nur oberflächlich existierenden Linien in Bezug auf Geografie, Zeit und Gender. Die herausfordernde Erzähltechnik wird polarisieren. Manche*r Leser*in wird sich wiederfinden in der Demontage des Selbst, wird eine Offenheit verspüren, die in manch einfachem gesellschaftlichem Denkmuster zu oft fehlt. Andere werden gelangweilt oder überfordert sein.

Ein Werk, das in jeder Hinsicht Grenzen auslotet. Leser*innen empfohlen, die offen für literarische Experimente sind.

Signatur: SL
Schlagworte: Identität | Geschichte | Familie | Transgender
Bewertung: +
Rez.: Marcel Lorenz

Schnerf, Joachim: Wir waren eine gute Erfindung. Roman. Dt. von Nicola Dens. München: Antje Kunstmann 2019. 141 S. ; 20 cm. Aus d. Franz. ISBN 978-3-95614-315-1, geb.: 18,00 €

Hommage an eine Lebenskünstlerin, die eine ausgeflippte Familie in Zaum zu halten versteht.

Die alljährliche Sederfeier an Pessach führt eine extrem unterschiedlich tickende Familie zusammen. Man trifft sich zu uralten Ritualen, zum Essen der besonderen Speisen, die an die Befreiung der Vorfahren aus der ägyptischen Gefangenschaft erinnern. So soll es auch diesmal, zwei Monate nach Sarahs Tod sein, hat Salomon den Töchtern versprochen. Doch wird er, der traumatisierte Überlebende von Auschwitz, das schaffen?  Kann das gelingen ohne sie, die in bewundernswerter Ruhe und Ausgeglichenheit die oft schrägen und nervigen Familienmitglieder zu nehmen verstand? Salomon lässt in seinen Überlegungen zum Verlauf der Feier die Erinnerungen an frühere Feiern, besonders die des letzten Jahres, Revue passieren. Das hilft dem alten Mann, den Abend anzugehen und ist zugleich eine wundervolle Liebeserklärung an die Verstorbene und an alte Familienfeiern, lebensnah und zugleich urkomisch, aber auch zutiefst bewegend erzählt.

Für Liebhaber tiefsinniger und zugleich mit Humor geschilderter Familiengeschichten ein Lesevergnügen.

Signatur: SL
Schlagworte:
Judentum | Familienfeiern | Konflikte | Konfliktbewältigung
Bewertung: +++
Rez.:
Halgard Kuhn

 

Taylor, Kressmann: Adressat unbekannt. Dt. von Dorothee Böhm. Mit einem Nachwort von Elke Heidenreich. 2. Aufl. Hamburg: Hoffmann & Campe 2012. 76 S. ; 19 cm. Aus d. Engl. ISBN 978-3-455-40415-9, geb.: 9,99 €

63 Seiten, die einem den Atem verschlagen. Ein fiktiver Briefwechsel 1932/33 in dem der Aufstieg der Nazis mit ihrem Antisemitismus vorgeführt wird.

Rache ist süß. Und diese ist diffizil und unglaublich. Sie entspringt einer tödlichen Kränkung. Sie ist eine sagenhafte Antwort auf die Vernichtung des europäischen Judentums, abgebildet in einem Briefwechsel aus 19 Briefen. Zwei Geschäftspartner, die nach dem 1.Weltkrieg in San Fransisco eine erfolgreiche Galerie betreiben, geraten durch Geschichte und Geschicke in absolut gegensätzliche Fahrwasser. Der eine deutsche Teil geht zurück nach Deutschland und wird in Windeseile zum fanatischen Nationalsozialisten voller antisemitischer Verblendung und Verblödung. Der andere, jüdische Teil und ehemaliger Freund des ersten, reagiert zunächst fassungslos und bestürzt. Nach dem Tod seiner Schwester, der Geliebten des einstigen Freundes, deren Ermordung derselbe in seinem eigenen Park billigend hinnimmt, wandelt sich der Briefwechsel zu einem sagenhaften Monolog einer ausgefeilten Rache. Erst nach der Lektüre verschlägt es der Leserin die Sprache, vorher herrschen Verwunderung und Angst.

Diese Neuausgabe zum 75. Jubiläum ihrer Erstveröffentlichung gehört in jede Bücherei! Sehr empfohlen für den Gottesdienst, Gesprächsgruppen und Schulunterricht.

Signatur: SL
Schlagworte: Antisemitismus | Freundschaft | Verrat | NS-Zeit
Bewertung: +++
Rez.: Christiane Thiel

Jb Biografien, Briefe, Tagebücher

Wolffsohn, Michael: Wir waren Glückskinder - trotz allem. Eine deutschjüdische Familiengeschichte.  München: Dt. Taschenbuch Verl. 2021. 230 S. : Ill. ; 22 cm. ISBN 978-3-423-76331-8, geb.: 14,95 €

Thea Saalheimer und Max Wolffsohn gelingt mit ihren Familien die Flucht aus Nazi-Deutschland nach Britisch-Palästina.

Angeregt durch seinen Enkel Noah, der „mehr über Juden und Hitler wissen" wollte, erzählt Michael Wolffsohn (1947 in Tel Aviv geboren) für Jugendliche die Geschichte seiner deutsch-jüdischen Familie, die vor den Nazis nach Britisch-Palästina fliehen konnte, und damit, anders als sechs Millionen Juden, „Glück im Unglück" hatte. Thea und Max Wolffsohn kehrten später mit Sohn Michael ins Nachkriegsdeutschland zurück. Er schildert ihr Leben und seine Kindheit, spannend, berührend, auch komisch und in einer für Jugendliche leicht verständlichen Form, die manchmal allerdings etwas anbiedernd wirkt. Er spricht die Leser*innen direkt an, erklärt auch komplexe Sachverhalte verständlich, ohne Vorwissen vorauszusetzen, warnt vor Verallgemeinerungen („die Deutschen“ oder „die Juden“) und zieht immer wieder Parallelen zur aktuellen Lage in Israel und Deutschland. Der Titel ist quasi die Jugendbuchversion seines Buchs „Deutsch-jüdische Glückskinder" (2017).

Das Buch, das ein wichtiges Thema in verständlicher Form behandelt, wird für Jugendliche ab 12 Jahren empfohlen, sollte breit angeboten werden, und eignet sich auch für die Veranstaltungsarbeit.

Signatur: Jb | Gg
Schlagworte: Wolffsohn (Familie) | Geschichte
Bewertung: +++
Rez.: Wolfgang Vetter

B Biografien, Briefe, Tagebücher

Fried, Amelie: Schuhhaus Pallas. Wie meine Familie sich gegen die Nazis wehrte. Unter Mitarbeit von Peter Probst. 1. Aufl. München: Hanser 2008. 183 S. : Ill. ; 22 cm. ISBN 978-3-446-20983-1, geb.: 14,90 €

Die Fernsehmoderatorin Amelie Fried erforscht ihre Familiengeschichte und deckt erschütternde Geheimnisse auf.

Ein Zufall führt die Autorin Amelie Fried (*1958) auf die Spur von Verwandten, die im Konzentrationslager ermordet wurden. Sie forscht nach, zieht alle möglichen Quellen zu Rate und findet Erschütterndes. Ihre Großmutter väterlicherseits ließ sich von ihrem jüdischen Ehemann scheiden, um ihr Lebenswerk, das Schuhhaus Pallas in Ulm, nicht an die Nazis zu verlieren. Amelies jüdischer Großvater wurde schikaniert und kam ins KZ, das er glücklicherweise überlebte. Ihr Vater, dessen Verhältnis zu seiner Tochter immer distanziert und für sie sehr undurchsichtig, unverständlich und schmerzhaft war, erscheint ihr nun, z.B. durch seinen Widerstand aus Gerechtigkeitssinn und seine Anpassung aus Überlebenswillen, in einem neuen Licht. Zahlreiche Dokumente (Fotos, Anmerkungen, ein Stammbaun, hilfreiche Websites) illustrierten dieses ausgezeichnete Buch, das in keiner Bücherei fehlen sollte.

Ein Buch, das viele Altersgruppen anspricht, von jungen Erwachsenen bis zu Personen, die selber auf irgendeine Weise von dem Unheil des Zweiten Weltgrieges betroffen sind.
Ebenso empfohlen wie das gleichnamige Hörbuch ISBN 978-3-86717-245-5).

Signatur: Bb | SL
Schlagworte: Zeitgeschichte | Holocaust | Geschichte | Familie
Bewertung: +++
Rez.: Martina Mattes

Leo, Maxim: Wo wir zu Hause sind. Die Geschichte meiner verschwundenen Familie. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2019. 364 S. ; 21 cm. ISBN 978-3-462-05081-3, geb.: 22,00 €

Die wahre Geschichte einer jüdischen Familie, die auf der Flucht vor den Nazis in alle Welt zerstreut wurde.

Der mehrfach preisgekrönte Autor Maxim Leo schildert in seinem Buch wie in einem Roman die unglaublichen Geschichten seiner Berliner Familie, die in den 30er Jahren vor den Nazis fliehen musste und in alle Himmelsrichtungen verstreut wurden. Aus Gesprächen mit den Nachkommen und Recherchen der Familiengeschichten entwickelt sich für den Leser eine Ahnung von dem ehemals reichen kulturellen Leben dieser Familien, dem Zeitgeist, den zerstörten Lebensträumen, den Schrecken und Strapazen der Flucht und den Schwierigkeiten in den unterschiedlichen Ländern wieder Fuß zu fassen. Besuche in England, Frankreich und Israel enthüllen detailreiche Lebensgeschichten der verschiedenen Generationen, die noch nach Jahrzehnten das Wissen um die verlorene Heimat verbindet, so dass sie nach Berlin zurückziehen, um die Stadt ihrer Vorfahren neu zu entdecken. Das Buch hat die Familie wieder zusammengebracht. Eine spannend und bewegend erzählte Spurensuche.

Ein wichtiges lesenswertes Buch. Hervorragend geeignet für alle Menschen, die sich für deutsche Geschichte, den Holocaust und die Biographien jüdischer Menschen interessieren.

Signatur: Bb
Schlagworte: Judentum | Deutschland | Familie | Geschichte
Bewertung: +++
Rez.: Wilfried Arnold

Wyden, Peter: Stella Goldschlag. Eine wahre Geschichte. Dt. von Ilse Strasmann. Mit einem Vorwort von Christoph Heubner. Überarb. Neuausg. Göttingen: Steidl 2019. 383 S. : Ill. ; 22 cm. Aus d. Amerikan. ISBN 978-3-95829-608-4, geb.: 20,00 €

Die Geschichte der Jüdin Stella Goldschlag, die sich von einer lebenslustigen, schönen und begabten Schülerin zur radikalen Antisemitin und Helferin der SS-Schergen entwickelte.

Aufgeschrieben hat sie der jüdische Autor Peter Wyden, der in seiner Jugend mit Stella die gleiche Schule besuchte, im gleichen Chor sang und nach dem 2. Weltkrieg von ihrer fatalen Entwicklung erfuhr. Der Autor konnte mit seinen Eltern als Fünfzehnjähriger gerade noch früh genug Anfang 1937 in die USA emigrieren und dort sehr schnell Fuß fassen. Stella konnte das nicht, weil sich die Bedingungen für eine Einreise in die USA extrem verschlechtert hatten.
Der als amerikanischer GI 1945 nach Berlin zurückgekehrte und für den „Tagesspiegel“ arbeitende Autor erfährt zufällig durch einen Zeitungsbericht der ostdeutschen „Täglichen Rundschau“ über Stellas Prozess, der seine umfangreiche Recherche (über 160 Personen wurden befragt) auslöst.
Peter Wyden hat nicht nur Stellas Geschichte erzählt, sondern ebenso die der Verfolgung und Vernichtung der Juden, die irgendwie auch seine als Entkommener ist. Er stellt sich mehrmals die Frage, wie er sich in bestimmten Situationen verhalten hätte, er, der seiner Mutter in der Widmung des Buches dankbar dafür ist, dass sie Hitler richtig einschätzte, dass er dadurch zu den Geretteten gehört, nicht zu den Opfern.

Ein Buch, das immer noch - oder zunehmend wieder - 26 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung durch sein Thema aktuell ist.

Signatur: Bb
Schlagworte: Judenverfolgung | NS-Zeit | Emigration
Bewertung: +++
Rez.: Reinhold Zenke

S Sozialwissenschaften (Staat, Politik, Recht, Wirtschaft)

Polak, Oliver: Gegen Judenhass. Berlin: Suhrkamp 2018. 127 S. ; 18 cm. ISBN 978-3-518-46984-2, kt.: 8,00 €

Für alle, die es immer noch nicht wissen wollen – es gibt einen alltäglichen Judenhass in Deutschland.
Wie dankbar muss ein Land sein, dass es einen solchen exponierten und mutigen und authentischen Vertreter des Judentums hat.


Die ersten 73 Seiten mit je einer Frage oder These, verlangen dem Leser viel Nachdenken und Ehrlichkeit ab. Er kommt nicht um eine intensive Auseinandersetzung mit sich selbst herum. Wozu dieser Einstieg nötig ist, wird dann schnell klar. Polak erzählt. Ohne Schminke, ohne Umschweife reiht er unmittelbar kurze prägnante Situationen aneinander, die er in seinem Alltag erlebt. Es gibt keine Klischees über den Judenhass. Alles ist wahr. Was Polak erduldet, möchte man selbst seinen Feinden nicht wünschen. Betroffen neigt der Leser sein Haupt und sinkt in sich zusammen. In diesem Ausmaß, mit dieser Vehemenz, so unendlich dumm. Wo kommt das her? Es kommt nicht. Judenhass ist tief verwurzelt und ist an der Tagesordnung. Nach diesem Buch kann niemand mehr sagen: Ich habe es nicht gewusst. Danke Oliver Polak für deinen Mut und deine Courage. Wer das anders sieht, sollte noch einmal das Buch lesen.

Bitte unbedingt anschaffen und immer wieder empfehlen!

Signatur: Sb | Ck
Schlagworte: Judentum | Antisemitismus
Bewertung: +++
Rez.: Dirk Purz

CDs für Erwachsene

Foer, Jonathan Safran: Hier bin ich. Autorisierte Lesefassung. Gelesen von Christoph Maria Herbst. Dt. von Henning Ahrens. Berlin: Argon 2016. 10 CDs ; 718 Min. Aus d. Amerikan. ISBN 978-3-8398-1513-7, : 29,95 €

Eine jüdisch-amerikanische Familie zerbricht und ein schweres Erdbeben im Nahen Osten droht die Weltordnung zu zerstören.

„Hier bin ich“ – „Ich bin bereit“. Das sind die ersten und letzten Sätze eines 700 Seiten umfassenden Romans, der als Hörbuch elf Stunden dauert. Im Mittelpunkt stehen zwei große Themenkomplexe: Der eine zeigt die langsam in die Brüche gehende Ehe von Jakob und Julia, die nach 16 Jahren, kurz vor der Bar Mitzwa des ältesten ihrer drei Söhne, ihren traurigen Höhepunkt erreicht. Der andere handelt von dem Staat Israel, der durch ein Erdbeben schwer beschädigt und für seine feindlichen Nachbarn leichte Beute zu werden droht. In Vor- und Rückblenden wird geschildert, wie Jakobs Unsicherheit und die Bürde seiner jüdischen Familiengeschichte sowie Julias sich mehrenden Gehässigkeiten einen Lebenstraum zerstören. Besonders auffällig sind die noch minderjährigen Söhne mit ihren teilweise tiefsinnigen Gedanken und ihrem Umgang mit der Sexualität, die im ganzen Roman, neben Kampf und Sterben, eine große Rolle spielt. Der Roman, von der internationalen Presse gelobt und von Christoph Maria Herbst brillant vorgelesen, ist in jeder Hinsicht anstrengend.

Eher für größere Bestände.

Signatur: SL
Schlagworte: Familie | Scheidung | Israel
Bewertung: ++
Rez.: Martina Mattes

Köhlmeier, Michael: Bruder und Schwester Lenobel. Vollständige Lesung. Gelesen vom Autor. München: Der Hörverl. 2018. 2 mp3-CDs ; 1288 Min. ISBN 978-3-8445-3105-3, : 26,00 €

Der Roman stellt existentielle Fragen nach Familie, Partnerschaft, Liebe und Lebenssinn.


Der Wiener Psychoanalytiker Dr. Robert Lenobel ist spurlos verschwunden. Das mailt seine Frau Hanna ihrer Schwägerin Jetti nach Dublin und bittet um einen schnellen Besuch. Jetti und Hanna sind durch eine Art Hassliebe zwischen Eifersucht, Rivalität und Solidarität miteinander verbunden. Zu ihrem Bruder Robert hat die jüngere Jetti eine enge Beziehung, denn die Geschwister waren durch eine schwierige Kindheit schon sehr früh auf sich allein gestellt. Auf verschlungenen Pfaden entwickelt sich langsam eine belastende Familiengeschichte über drei Generationen, in der die Erfahrung des Holocaust bei allen weit verzweigte Spuren hinterlassen hat. Jetti flüchtet vor ihrem Beziehungsdurcheinander mit zwei Liebhabern, die unterschiedlicher nicht sein können. Robert vertieft sich in philosophische und psychoanalytische Überlegungen, um sich selbst und seinem Leben auf die Spur zu kommen. Jedes Kapitel beginnt mit einem Märchen, dessen Zusammenhang mit dem Text sich nicht so leicht erschließt.

Der Autor ist ein guter Sprecher, der die vielen Zwischentöne seines kunstvollen Erzählstils gut zum Ausdruck bringt. Sehr schwere Kost zum Hören, aber anregend zum Nachdenken.

Signatur: SL
Schlagworte: Familie | Traumatisierung | Sinnsuche
Bewertung: +
Rez.: Heidrun Martini

Scheer, Regina: Gott wohnt im Wedding. Gekürzte Lesung. Gelesen von Johann von Bülow. München: Der Hörverl. 2019. 1 mp3-CD ; 713 Min. ISBN 978-3-8445-3265-4, : 24,00 €

Hundert Jahre Schicksale in einem Berliner Haus.

Ein heruntergekommenes Haus in Berlin-Wedding; ein Jahrhundert; so viele Lebensgeschichten, die sich alle in ihm abgespielt haben. Alle sind sie untereinander und schicksalhaft mit dem Haus verbunden. Juden, Sinti und Roma, Migranten heute und alle die, die die Mieterverdrängung in diesen ärmlichen Stadtteil gebracht hat. So wie Leo, der nach 70 Jahren aus Israel nach Deutschland zurückkehrt, obwohl er das eigentlich nie wollte. Seine Enkelin Nira, die Amir liebt, der in Berlin einen Falafel-Imbiss eröffnet hat. Laila, die gar nicht weiß, dass ihre Sinti-Familie hier einst gewohnt hat. Ganz zentral in der Figurenkonstellation auch die alte Gertrud, die Leo und seinen Freund Manfred 1944 in ihrem Versteck auf dem Dachboden entdeckt, aber nicht verraten hatte.
Der Roman erzählt aus verschiedenen Perspektiven; historisch; doch auch berührend und manchmal humorvoll. Ein Mosaik von Schicksalen, das vielleicht sogar zu viele Themen anspricht.

Breit einsetzbar, Zeitgeschichte auf eingängige Art.

Signatur: SL
Schlagworte: Zeitgeschichte | Schicksal | Lebenswege | Berlin
Bewertung: ++
Rez.: Christiane Spary