Armut im Kinder- und Jugendbuch

Das Thema Klassismus ist so relevant wie untrendy in unserer Gesellschaft. Dabei lebt in Deutschland mehr als jedes fünfte Kind in oder nahe der Armut. Das sind ca. 2,8 Millionen. Armut begrenzt das Leben und die Zukunft dieser Kinder nachhaltig, darüber sollte viel mehr gesprochen werden. Und darüber, dass Kinder aus finanziell schwachen Elternhäusern nicht automatisch vernachlässigte oder vernachlässigungswerte Menschen sind. Auch nicht in der Literatur! Auch Kinder, die morgens statt mit Kressebrot mit einer Tüte Chips (und vielleicht ohne die erledigten Hausaufgaben) zur Schule gehen, kommen gerne in Geschichten vor. Wir möchten euch heute einige empfehlenswerte Kinder- und Jugendbücher vorstellen, in denen Armut, das Leben in Hochhäusern, Eltern, die arbeitslos oder Bäckereiangestellte sind eine Rolle spielen, ohne das zwangsläufig das Mitleidsfass geöffnet wird.  

Jm 1 Bilderbücher

Adrian hat gar kein Pferd. Marcy Campbell. Ill. von Corinna Luyken. Dt. von Uwe-Michael Gutzschhahn. München: cbj 2019. O. Pag. : überw. Ill. ; 28 cm. Aus d. Engl. ISBN 978-3-570-17647-4, geb.: 15,00 €

Adrian Simmer erzählt jedem, dass er ein Pferd hat. Zoe glaubt ihm nicht und nennt ihn einen Lügner. Wahrheit oder Lüge?

Adrian erzählt jedem von seinem Pferd, manche glauben ihm sogar seine Geschichten. Zoe aber nicht. Denn Adrian wohnt in einer Stadt und da kann man kein Pferd halten. Sie denkt, er ist ein Lügner und das sollen alle wissen. Zoe erzählt ihrer Mama davon, sie aber fragte nur, woher sie das wissen will. Zoe erklärt, er esse nur Butterbrote in der Schule, seine Schuhe haben Löcher und Pferde kosten doch so viel Geld! Doch dann ändert sie ihre Meinung.In der Geschichte über den kleinen Träumer Adrian erzählt Marcy Campbell berührend über Wunschdenken und Fantasie. Sie gibt Adrians Traum vom Pferd so viel Raum, dass man als Leser schnell Empathie und Mitgefühl für ihn entwickelt. Corinna Luyken stellt das Geschehen detailreich und in fröhlich-bunten Federzeichnungen dar, gibt Adrians Pferd immer wieder sanft zu erkennen und nimmt den Leser mit in die Geschichte hinein. Der Text ist angemessen verteilt und aus der Sicht von Zoe in der Ich-Form geschrieben. Sehr schön und zum Nachdenken anregend.

Ein außergewöhnliches Buch für Kinder ab 4 Jahren, wenn die Fantasien anfangen sich zu entwickeln und die Kinder in ihre Traumwelt eintauchen. Sehr schön für jede Kinderbibliothek.

Signatur: Jm 1
Schlagworte: Mitgefühl | Fantasie | Anerkennung
Bewertung: +++
Rez.: Barbara Hildenbrand

Ju 1 Erzählungen für das erste Lesealter (6-8 Jahre)

Chlodwig. Will Gmehling. Ill. von Jens Rassmus. Wuppertal: Hammer 2018. 43 S. : überw. Ill. ; 23 cm. ISBN 978-3-7795-0600-3, geb.: 14,00 €

Zwei ganz unterschiedliche Familien treffen aufeinander.

Bert lebt mit Mama, Papa und drei Geschwistern in einem Hochhaus. Mama ist Putzfrau und Papa arbeitet in einer großen Kantine. In der Wohnung herrscht das reinste Chaos, mit der Schule stehen die Kinder auf dem Kriegsfuß, aber Papa kann gut mit den Lehrern, denn er ist groß und stark und hat ein Tattoo auf dem Unterarm. Am liebsten sitzt die ganze Familie zusammen im Bett und liest Geschichten.Dann kommt Chlodwig in Berts Klasse. Sein Papa ist Zahnarzt, die Mama Architektin. Er wohnt in einem Haus mit Garten, ist gut in der Schule und hat immer tolle Pausenbrote dabei (die kriegen Berts Eltern nicht so oft vorbereitet). Und immer öfter steht Chlodwig vor Berts Tür: Lernt mit der Schwester, liest mit dem Bruder Weltraumbücher und fühlt sich pudelwohl. Eine Geschichte, die immer wieder mit Vorurteilen bricht und dabei nicht ins Moralisierende abgleitet. Die zeigt: Auch Eltern, die nicht alle Erwartungen, die an sie gestellt werden, erfüllen, können liebevolle Eltern sein. Sie können ihren Kindern vielleicht nicht alles bieten, was man für ein (beruflich) erfolgreiches Leben braucht, aber: Wie definiert sich denn eigentlich ein „erfolgreiches“ Leben?

Sehr empfohlen! Auch für Erwachsene.

Signatur: Ju 1
Schlagworte: Soziale Unterschiede | Werte | Familie
Bewertung: +++
Rez.: Wiebke Mandalka

Ju 2 Erzählungen für das zweite Lesealter (9-12 Jahre)

Blesken, Julia: Mission KoloMoro. oder: Opa in der Plastiktüte. Ill. von Barbara Jung. Hamburg: Oetinger 2021. 286 S. : Ill. ; 22 cm. ISBN 978-3-7512-0052-3, geb.: 15,00 €

Sechs Kinder auf dem Weg zu einer äußerst ungewöhnlichen Beerdigung.

An einem ganz gewöhnlichen Ferientag trifft Katja vor dem Supermarkt auf ihre Mitschüler Zeck und Fridi. Bald kommen vier weitere Klassenkameraden dazu, und plötzlich sind sie mitten in einer wichtigen Mission. Jennifer Klar ist nämlich auf der Suche nach Kolomoro, dem Schrebergarten ihres Opas. Wie er es sich gewünscht hat, möchte sie dort seine Asche verstreuen, die sie in einer Plastiktüte dabei hat. Leider hat sie vergessen, wo Kolomoro liegt, und so beschließen die Kinder, gemeinsam danach zu suchen. Auf ihrem Weg stolpern sie von einem Abenteuer ins nächste, lernen ganz neue Seiten an sich und ihrer Heimatstadt Berlin kennen und werden Freunde.Ein sehr schräges, außergewöhnliches Buch, das sich dem Tod auf eine unverkrampfte, kindliche Weise nähert. Die Autorin versucht, die gesamte soziale und multikulturelle Vielfalt Berlins abzubilden, das ist interessant, hält den rasanten Erzählfluss jedoch oft unnötig auf.

Dennoch ein sehr amüsantes und lebenskluges Buch, das beim Vorlesen die ganze Familie mitreißen wird, das aber auch zum Selberlesen gut geeignet ist. Ab 9 J.

Signatur: Ju 2
Schlagworte: Tod | Berlin | Vielfalt | Abenteuer
Bewertung: ++
Rez.: Elisabeth Schmitz

Boie, Kirsten: Gangster müssen clever sein. Ein Krimi mit echter Milliardärstochter. Ill. von Regina Kehn. Hamburg: Oetinger 2022. 316 S. : Ill. ; 22 cm. ISBN 978-3-7512-0003-5, geb.: 15,00 €

Unterhaltsamer und fesselnder Kinderkrimi, der soziale Unterschiede kindgerecht einbaut.

Eine gelungene Fortsetzung und Zusammenführung der Kinderkrimis „Der Junge, der Gedanken lesen konnte" und „Entführung mit Jagdleopard", in dem Valentin, Mesut und Jamie-Lee den Einbruch in der Milliardärsvilla von Fee Ranzmann, Jamie-Lees bester Freundin, aufklären wollen. Die vier Freunde stellen bei ihren Recherchen schnell fest, dass der Chauffeur und der Bodyguard der Familie nicht das sind, was sie vorgeben zu sein. Diese fesselnde Detektiv- und Freundschaftsgeschichte überzeugt durch die authentische Sprache, einem kindlichen Erzählton mit eingestreuten modernen Ausdrücken, vielen einnehmenden Charakteren mit teils schrägen Besonderheiten und einfach einer packenden Handlung zum Mitfiebern und Mitraten. Freundschaft und Zusammenhalt sind dem Team wichtig, aber sie lernen auch, sich sozialen Unterschieden, familiären Problemen, kultureller Vielfalt und Armut zu stellen, denn in einer heilen Welt spielt diese Geschichte nicht. Realistisch, aber kindgerecht werden die Lebensbedingungen der vier Helden veranschaulicht und regen zum Nachdenken an.

Ein Leckerbissen mit Charme, Witz und ganz viel Spannung für Detektivliebhaber ab 10. Ein Muss für die Schulbücherei und ein Gewinn für jede Vorleserunde in Klasse 4 oder 5.

Signatur: Ju 2
Schlagworte: Kinderkrimi | Freundschaft | soziale Unterschiede | Spannung
Bewertung: ++
Rez.: Anne Tebben

Gmehling, Will: Freibad. Ein ganzer Sommer unter dem Himmel. Wuppertal: Hammer 2019. 155 S. ; 23 cm. ISBN 978-3-7795-0608-9, geb.: 14,00 €

Drei Geschwister erleben einen Freibadsommer und wachsen über sich hinaus.


Alf, 10, und Katinka, 8, versuchen gerade ihrem Bruder Robbie Schwimmen beizubringen, als sie geistesgegenwärtig ein kleines Kind vor dem Ertrinken retten. Zum Dank erhalten sie eine Freikarte für die Freibadsaison. Für die Bukowski-Geschwister, die mit ihren liebevollen Eltern in einer kleinen Wohnung im Block hinter den Gleisen wohnen, ist das großartig, auch wenn das Freibad ziemlich weit weg ist und kein Geld für den Bus da ist. Die drei gehen einfach zu Fuß und so unterschiedlich die Geschwister auch sind, zusammen haben sie den meisten Spaß und schmieden verschiedene Pläne für diesen Sommer.
Ein sachter Roman, der ohne viel Aufregung, aber dennoch mit Spannungsbögen drei besondere Protagonisten zeigt, die ohne viel Geld miteinander verschiedene Probleme, Lösungen und individuelle Entwicklungsschritte erleben und dabei den Sommer mit dem Duft von gebräunter Haut, Chlor und Pommes mit Mayo ins Zimmer holt. Der Ich-Erzähler und seine Geschwister punkten durch Authentizität.

Ein sommerlicher, grundpositiver Roman in leicht verständlicher Sprache, der in einem sozialen Milieu spielt, das in der KJL oft eher stiefmütterlich behandelt wird. Für Mädchen und Jungen ab 10 Jahren. Durchaus als Schullektüre denkbar.

Signatur: Ju 2
Schlagworte: Sommer | Mut | Geschwister | Ferien
Bewertung: ++
Rez.: Anne Tebben

Kaurin, Marianne: Irgendwo ist immer Süden. Dt. von Franziska Hüther. Ill. von Friederike Ablang. Zürich: Woow 2020. 228 S. : Ill. ; 22 cm. Aus d. Norw. ISBN 978-3-96177-050-2, geb.: 15,00 €

Was tun, wenn alle in der Klasse in die Sommerferien fahren - nur man selbst nicht? Einfach ein bisschen lügen ...

Ina ist 11. Wie es in der Schule so ist, sollen in der letzten Stunde vor den Ferien alle erzählen, was sie im Sommer machen. Alle reisen mit den Eltern ins Ausland, machen teure Fernreisen, tummeln sich in elitären Klubs. Nur Ina nicht. Dafür hat Mama kein Geld. Ina schämt sich – und erfindet eine Reise „in den Süden“, weit weg. Nun gehört sie dazu, ist Teil der Klasse. Aber dann wird sie in den Ferien vom Neuen in der Klasse, Vilmer, entdeckt. Er ist auch zu Hause, ohne Geld, aber er hat kein Problem damit. Und dann werden es grandiose Ferien, denn Vilmer kennt eine aufgegebene Dienstwohnung, in der die beiden ihre Abenteuer erleben. Wunderbare Tage, improvisiert, aufregend, spannend – und schöner als der echte Süden. Aber dann fliegt die Sache auf – und Ina verrät Vilmer. Ein Buch, das das Problem des sozialen Miteinanders und die Schwierigkeit des Muts in der Schule behandelt und die Sehnsucht als treibende Kraft nach Anerkennung, auf der Suche nach dem eigenen Platz im Leben.

Gute Schullektüre für Klasse 5./6., als Diskussionsgrundlage für Themen wie Ausgrenzung, Systemzwang, Gemeinschaft.

Signatur: Ju 2
Schlagworte: Freundschaft | Gemeinschaft | Ausgrenzung | Selbstfindung
Bewertung: +++
Rez.: Astrid van Nahl

Marmon, Uticha: Das stumme Haus. Frankfurt am Main: Fischer Sauerländer 2021. 206 S. ; 22 cm. ISBN 978-3-7373-5825-5, geb.: 14,00 €

Ein Zwillingspaar langweilt sich während des Lockdowns, bis ein Fremder auftaucht und im Nachbarhaus Seltsames vorgeht.

Nach dem Ausbruch der Pandemie ist nichts mehr, wie es vorher war. Auf einmal benehmen sich die Erwachsenen eigenartig, die Schule schließt und man darf nicht mehr raus, um mit seinen Freunden zu spielen. Dabei wohnen die Zwillinge Nikosch und Nini in einem fünfstöckigen Haus, dem sogenannten „Kaninchenbau“, wo immer etwas los ist und jeder jeden kennt. Jetzt ist es dort seltsam still und, schlimmer noch, furchtbar langweilig. Doch dann taucht im Keller des Hauses ein mysteriöser Fremder auf und aus dem neugebauten Nachbarhaus sendet jemand des nachts S.O.S.-Signale. Die Geschichte von Uticha Marmon schafft es wunderbar, ein ernstes, hochaktuelles Thema aus dem Blickwinkel von Kindern zu erzählen. Mit einer leichten, heiteren Sprache werden fast beiläufig Themen wie soziale Armut, systemrelevante und doch unterbezahlte Berufe oder Isolation angesprochen. Nach einem eher ruhigen Start gewinnt die Handlung mehr und mehr an Erzähltempo und Spannung.

Ein schönes Buch zu einem sehr aktuellen Thema aus Kindersicht erzählt. Leichtfüßig und witzig geschrieben und doch immer mit dem nötigen Ernst. Zu empfehlen ab 8 Jahren!

Signatur: Ju 2
Schlagworte: Corona | Armut | Solidarität
Bewertung: +++
Rez.: Juliane Deinert

Nielsen, Susin: Adresse unbekannt. Dt. von Anja Herre. Stuttgart: Urachhaus 2020. 284 S. ; 21 cm. Aus d. kanad. Engl. ISBN 978-3-8251-5226-0, geb.: 17,00 €

Wie ein 12-Jähriger trotz Obdachlosigkeit und Not mit seiner Mutter und für sie das Leben meistert.

Dass der 12-jährige Felix mit der Mutter, die keinen Job findet, oft umzog, nun im alten Minibus mal hier mal da wohnt, darf niemand in der Schule erfahren; nicht sein bester Freund Dylan, nicht Winnie, die ihn irritiert und fasziniert. Niemand weiß, dass Felix‘ Mutter oft spontane, auch illegale Lösungen sucht. Felix liebt sie, umsorgt sie tapfer. Als für die TV-Frageshow „Wer, Was, Wo, Wann“ junge Kandidaten gesucht werden, bewirbt sich Felix und gewinnt. Doch das als Nothilfe erhoffte Preisgeld wird er erst bekommen, wenn er 18 ist. Eine niederschmetternde Nachricht. Felix hält nicht stand, kann nicht mehr schweigen; helfende Freunde fangen Mutter und Sohn auf. - Geschickt sind verschiedene Motive verflochten, Charaktere skizziert. Packend und anrührend erzählt die Autorin vom Alltag eines tapferen Jungen, von seiner Fürsorge für die labile Mutter, von Not und Obdachlosigkeit, lässt doch hinter allem immer wieder Humor und Situationskomik aufblitzen und erlaubt ein gutes Ende.

Obdachlosigkeit und Armut sind ein wichtiges, sperriges Thema. Spannend und mit Humor betrachtet wie hier, mag es viele Leser ab 10 anrühren, zum Nachdenken und Gespräch anregen.

Signatur: Ju 2
Schlagworte: Obdachlosigkeit | Armut
Bewertung: +++
Rez.: Heide Germann

Rutter, Helen: Neun Wünsche für Archie. Dt. von Silke Jellinghaus. Zürich: Atrium 2022. 270 S. ; 22 cm. ISBN 978-3-85535-685-0, geb.: 17,00 €

Archie wird von seinen Eltern vernachlässigt. Werden ihm die neun Wünsche helfen, die er geschenkt bekommt?

Archie Crumb, 11, hat es nicht leicht: Seitdem sein Vater mit seiner neuen Frau ein Kind bekommen hat, verlässt seine Mutter das Bett kaum noch, hat ihren Job verloren und verlangt von ihm, niemanden von ihrer Situation zu erzählen. Auch in der Schule läuft es suboptimal: Archie ist keine Leuchte und kann auch nicht mit einem besonderen künstlerischen oder sportlichen Talent aufwarten. Zudem machen sich die anderen Kinder über die zu kleinen Klamotten lustig, mit denen er herumlaufen muss, weil kein Geld für neue da ist. Der Vater ist genervt, wenn ein Sohn-Wochenende ansteht und ignoriert mehr als großzügig, was bei Archie zu Hause vorgeht. Zum Glück hat Archie seine Freundin Maus. Und neun magische Wünsche frei, die ihm sein Lieblingsfußballer nach einem Unfall geschenkt hat. Doch die Sache mit dem Wünschen erweist sich als ziemlich tricky …

Trotz des schwierigen Grundthemas eine sehr unterhaltsame und optimistische Geschichte mit einem liebenswerten Protagonisten, den trotz aller Probleme ein schönes, wenn auch recht abruptes Happy-End erwartet. Etwas störend fand ich die vielen Motivationsbotschaften („Je härter du arbeitest, desto mehr Glück wirst du haben.“)  im Buch, doch werden sie sicher das eine oder andere Kind positiv erreichen.

Signatur: Ju 2
Schlagworte: Kinderarmut | Freundschaft | Fußball | Hoffnung
Bewertung: ++
Rez.: Wiebke Mandalka

Schinko, Barbara: Zimteis mit Honig. Ill. von Ulrike Möltgen. Wien: Picus 2019. 162 S. : Ill. ; 22 cm. ISBN 978-3-7117-4012-0, geb.: 14,00 €

Die warmherzige Geschichte greift ein ungewöhnliches Thema auf: Obdachlosigkeit eines Kindes.

Der neunjährige Moritz, genannt Motz, verbringt seine Nachmittage im Einkaufszentrum, weil seine Eltern dort den Eissalon führen. Von seinen Freunden wird er darum beneidet, denn wie die anderen Kinder der Geschäftsinhaber kann er die Produkte der Eltern gelegentlich spendieren. Nur Mila, die er im Einkaufszentrum kennen lernt und mit der er sich anfreundet, ist anders. Sie ist immer dort, geht nicht zur Schule, trägt immer das gleiche Kleid, bringt nie ein Pausenbrot mit und sammelt auch Essbares von der Erde auf. Als er beobachtet, dass Mila im Teppichladen übernachtet, wird ihm klar was er schon lange ahnte: Mila ist obdachlos. Doch wie kann er ihr helfen?Einfühlsam aus der Sicht von Moritz erzählt, wird das Thema Obdachlosigkeit beschrieben und Motz erfährt, dass Hilfe für Mila nur von außen erfolgen kann. Schwarz-weiß-Aquarelle von Ulrike Möltgen begleiten unaufdringlich den Text, dessen österreichischen Ausdrücke für deutsche Leser teilweise ungewohnt sind.

Für alle Kinder ab 8 Jahren geeignet, die sich gerne mit lebensnahen Themen beschäftigen und als Schullektüre.

Signatur: Ju 2
Schlagworte: Obdachlosigkeit | Freundschaft | Hilfe
Bewertung: +++
Rez.: Gabriele Güterbock-Rottkord

Steinhöfel, Andreas: Rico, Oskar und die Tieferschatten. Ill. von Peter Schössow. 50. Aufl. Hamburg: Carlsen 2011. 220  S. : Ill. ; 19 cm. ISBN 978-3-551-31029-3, kt.: 6,99 €

Zwei ungleiche Freunde, der eine lernbehindert, der andere hochbegabt, stellen einen Kindesentführer.

„Tiefbegabt“ sei er, nicht „behindert“. So stellt sich Rico vor. Er trifft auf Oskar, den Hochbegabten, der wiederum auch ein Handicap hat: Er hat Angst vor allem, denn er weiß zu viel. Für die beiden Kinder spielen ihre Besonderheiten und Schwierigkeiten, die sie im Leben haben, keine Rolle. Sie sehen einander und schließen treue Freundschaft, die ihnen Kraft und Mut verleiht in einem gefährlichen Abenteuer. Spannend zu lesen ist dieser Großstadt-Krimi für Kinder. Berührend ist, wie der „Tiefbegabte“ seine Geschichte in Tagebuchform erzählt, wie er die Welt um sich herum wahrnimmt und deutet, fantasievoll mit viel Witz, wie auch treuherziger Naivität, pragmatisch denkend, mal geradezu weise.Die Abgrenzungen von „behindert“ und „normal“ sind aufgelöst. Diese beiden Jungs navigieren sicher durch das Leben, auch, weil da Erwachsene sind, die die Kinder ernst nehmen und ein Auge auf sie haben.

Der erste von fünf Rico-Romanen, illustriert von Peter Schössow.Für Kinder ab 10 Jahren.

Signatur: Ju 2
Schlagworte: Anderssein | Freundschaft | Kinderkrimi | Behinderung
Bewertung: +++
Rez.: Margarethe Schöbel

Ju 3 Erzählungen für Jugendliche ab 13 Jahren

Duda, Christian: Baumschläfer. Roman. Weinheim: Beltz & Gelberg 2022. 195 S. ; 21 cm. ISBN 978-3-407-75685-5, geb.: 18,00 €

Aufwühlender Jugendroman über das Leben eines Jungen, der furchtbare Erfahrungen verarbeiten muss und daran scheitert.

Der 14-jährige Marius verliert durch einen Messerangriff seine Mutter und wird selber schwer verletzt. Es folgen Heimaufenthalt, Sprachlosigkeit, innere Isolation, dann Obdachlosigkeit, Diebstahl, Hausverbote, Platzverweise, Raub. Erst in einem großen Pappkarton und schließlich in einer Eibe findet Marius Ruhe vor der Welt, die ihn nicht versteht und der er nicht vertrauen kann.Duda hat den Roman wie eine Fallakte aufgebaut und erzählt konsequent aus der Sicht von Marius. Seine oft mit Schimpfworten gespickten Gedanken, die er nie äußert, werden schlaglichtartig im Fettdruck eingestreut und ergeben einen intensiven Einblick in seine Gefühlswelt. Dadurch erreicht der Autor, dass einem die Sehnsucht von Marius nach Geborgenheit und Verständnis und seine Verlorenheit, aber auch die Schwierigkeiten von Sozialarbeiter*innen und Polizei an ihn heranzukommen, besonders nahe gehen.Keine leichte Lektüre, sprachlich und thematisch anspruchsvoll, hallt der Jugendroman lange nach!

Für Jugendliche frühestens ab 14 Jahren, möglichst unter Begleitung von Erwachsenen als Diskussionsgrundlage z. B. im Unterricht gut geeignet. Aber auch für Erwachsene sehr lohnenswert.

Signatur: Ju 3
Schlagworte: Familie | Obdachlosigkeit | Traumatisierung | Heimaufenthalt
Bewertung: +++
Rez.: Gabriele Güterbock-Rottkord