Lesetipps in diesen Zeiten

Dr. Thies Gundlach, Vizepräsident des Kirchenamtes der EKD, empfiehlt:

Michael Ende/Michael Bayer: Tranquilla Trampeltreu

Es geht um eine große Reise zu einem großen Fest und es beginnt mit dem großen Staunen der Schildkröte Tranquilla, dass wirklich alle eingeladen sind, wirklich alle „groß und klein, alt und jung, dick und dünn, nass und trocken“. Und trotz ihrer kurzen Stummelbeinchen und ihrem gemächlichen Tempo macht sich auf Tranquilla auf die Reise zur Hochzeit des Großen Sultan, Leo der achtundzwanzigste. Und sie begegnet jenen Typen, die wir alle kennen: „Das schaffst du nie“, sagen sie, „das kannst du gar nicht, das überfordert dich, du hast keine Chance, du kommst sowieso zu spät“ usw. usf. Die es vermeintlich gut meinende Spinne, die lästerliche Schnecke, der arrogante Salamander, die hungrigen Raben, sie alle haben diese entmutigende Frage: „Wie willst Du das denn schaffen, Tranquilla?“ Und die Antwort ist ebenso zeitlos und aktuell: „Schritt für Schritt“.

Es gibt kaum ein schöneres, anrührenderes Kinderbuch als diese ganz anders geartete „Entdeckung der Beharrlichkeit“; und es gibt wohl kaum eine passendere Zeit als diese Corona-Krise, um dieses alte schöne Wort der Beharrlichkeit wieder zu entdecken. Denn diese Beharrlichkeit ist eine Mischung aus Entschlossenheit und Geduld, mit Unbeirrbarkeit und Zuversicht. Und diese Beharrlichkeit ist wunderbar illustriert mit Bildern von Michael Bayer, der mit klaren Strichen und lustigen Details die Szenen darstellt.

In diesen Tagen kann dieses Buch in wunderbar leichter Weise die Schwere der Corona-Situation aufnehmen und das ebenso sinnvolle wie erforderliche Verhalten bestärken. Es ist geeignet für Kinder und Erwachsene gleichmaßen.

Tranquilla Trampeltreu. Michael Ende. Ill. von Michael Bayer. 11. Aufl. Stuttgart: Thienemann 2009. O. Pag. : überw. Ill. ; 30 cm. ISBN 978-3-522-43630-4, geb.: 15,00 €

Der Autor Will Gmehling empfiehlt:

Zen-Geist

Anfänger-Geist

von

Shunryu Suzuki

Das ist ein Buch, in dem ich schon mein halbes Leben lang lese, immer wieder, meist nur ein paar Seiten, das genügt. Und ich bin immer wieder erstaunt.

Shunryu Suzuki war ein japanischer Zen-Meister, der in den später 50-Jahren nach San Francisco kam, um Zazen zu unterrichten, die Meditationspraxis des Zen. Bis dahin dachten die Leute, Zen sei eine schlaue, intellektuelle Methode, um mit dem Leben besser klarzukommen. Suzuki aber lehnte intellektuelle Spielchen ab und lenkte stattdessen das Augenmerk auf Zazen: Man sitzt auf einem speziellen, recht harten Kissen, der Wand gegenüber. Die Beine sind verschränkt im Lotos- oder Halblotus, die Knie drücken auf den Boden. Die Wirbelsäule ist schön gestreckt und gerade. Auch der Nacken ist gestreckt. Das Kinn wird leicht zurückgezogen, die Augen bleiben halb geöffnet. Die Hände formen das schöne, kosmische Mudra. Die Atmung ist ruhig und tief. Was ist mit den Gedanken und Gefühlen, die nun unweigerlich hervorsprudeln, den Alltagsbanalitäten, Ängsten, Wünschen und Plänen? Was ist mit der Traurigkeit und der Wut? Man bewertet all das nicht, man lässt alles an sich vorbeiziehen, was immer auch auftaucht.

Suzuki beschreibt das sehr genau. Auch wie man zwischen zwei Sitz-Perioden geht, langsam und hoch konzentriert auf jedes kleinste Detail. Danach spricht er viel über die Geisteshaltung, die Irrtümer, die sich leicht einstellen. Er betont immer wieder, wie wichtig es ist, Zazen ohne Gedanken an irgendeinen Nutzen zu praktizieren, was vielen in der westlichen Welt komplett fremd ist.

Doch natürlich geht es nicht nur um Irrtümer. Suzuki eröffnet uns heiter eine Philosophie jenseits der Philosophie, eine Religion jenseits der Religion, wunderbar widersprüchlich und verblüffend, archaisch und hochmodern.

Ein Buch, das wie geschaffen ist für diesen Moment gerade, wo vieles, was selbstverständlich war, nicht mehr geht. Wo man zurückgeworfen wird auf sich selbst wie schon lange nicht mehr. Wo man allerdings auch erbarmungslos vollgestopft wird mit Informationen jeder Art, rund um die Uhr. Da sagt uns Suzuki: Setz dich stabil hin, hör dem Frühlingswind zu und den Amseln, halt den Mund, dies hier ist wirklich ernst, das hier bist DU, und niemand sonst.

Suzuki hat Zen-Geist Anfänger-Geist nicht in dieser Form geschrieben. Die kurzen Texte sind jeweils Aufzeichnungen von Reden, die er nach dem Zazen vor seinen Schülern hielt. Unterweisungen der freundlichen Art, schnörkellos und manchmal schneidend. Jeder kann das lesen und verstehen, jeder Christ, jeder Atheist, jeder Moslem, jeder Hans und Franz. Auch wer keine Lust hat, stundenlang auf einem Kissen sich selbst zu begegnen, wird diese Texte mögen, ihren zarten Humor, ihre Strenge. Es tut gut zu lesen, was da über den Tod steht oder über das Leiden, das Anhaften und das Nicht-Anhaften. Die Leerheit. Das berührt genau, was sich gerade ereignet, es geht aber auch weit darüber hinaus, zum Glück.

„Was wir ‚Ich‘ nennen, ist nichts als eine Drehtüre, die sich bewegt, wenn wir ein- und ausatmen“, lesen wir. Oder: „Wenn ihr diese einfache Praxis jeden Tag fortsetzt, werdet ihr eine wunderbare Kraft bekommen. Bevor ihr sie bekommt, ist sie etwas Wunderbares, doch wenn ihr sie erhalten habt, ist sie nichts Besonderes mehr. Es ist nur euer eigenes Selbst, nichts Besonderes.“

Shunryu Suzuki zu lesen ist für mich wie Regen nach einem langen, heißen Sommertag.

Shunryu Suzuki, Zen-Geist Anfänger-Geist. Unterweisungen in Zen-Meditation. Bielefeld: Theseus Verlag 2016, 160 S. ; 21 cm. ISBN 978-3-95883-148-3, geb.: 16,95 €

Die Illustratorin Katja Gehrmann empfiehlt:

Da Reisen im Moment eher im Kopf stattfinden muss, kann man sich mit »Magellan« von Stefan Zweig auf eine spannende Seefahrt in eine vergangene Zeit begeben, in der Globalisierung ihren Anfang nahm. 

Das Buch ist es ein lebendiges Portrait des Fernao de Magelhaes, eines kleinen portugiesischen Edelmanns. Gleichzeitig erzählt die Geschichte der Expedition, der es als erste gelang die Welt zu umsegeln. Damit sich Spanien und Portugal nicht stritten, hatte der Papst 1493 die Welt  in zwei Teile geteilt - wie einen Apfel - und an die beiden Nationen verschenkt. So einfach war das damals. Spannend und ungelöst blieb dabei die Frage, ob die begehrten Gewürzinseln damit den Spaniern oder den Portugiesen gehörten. Magellan schlug dem spanischen König Enrique vor, einen neuen Weg westwärts zu den Gewürzinseln zu finden. Er war sich sicher, dass es im amerikanischen Kontinent eine Durchfahrt zum pazifischen Ozean gab. Der spanische König war begeistert und so konnte Magellan 5 Schiffe mit 237 Seeleuten ausrüsten. Am 10.8.1519 stachen sie in See. Es begann eine gefährliche Reise durch die damalige Welt.

Magellan ist eine spannende Geschichte, in die man eintauchen und alles drum herum vergessen kann. So ging es mir, als ich das Buch kurz nach Weihnachten in unserem Regal entdeckte, anfing zu lesen und nicht mehr aufhören konnte. Zum Glück waren Ferien.

Zweig, Stefan: Magellan. Der Mann und seine Tat. 5. Aufl. Frankfurt am Main: Fischer TB 2011. 336 S. ; 19 cm. ISBN 978-3-596-90358-0, kt.: 11,00 €

Dr. Johann Hinrich Claussen, Kulturbeauftragter der EKD, empfiehlt:

69 Euro sind viel Geld. Für die neue, wunderbar gestaltete, sechsbändige Gesamtausgabe der Schriften Johann Peter Hebel (1760-1826) ist dies aber ein sehr fairer Preis. Außerdem soll man sich in diesen Tagen zwischendurch etwas Gutes tun und dem Verlag oder der örtlichen Buchhandlung auch.

Man kann hier viel Unbekanntes und Überraschendes entdecken. Vor allem aber kann man Hebels „Kalendergeschichten“ von neuem lesen. Es ist das beste Stück neuzeitlich-evangelischer Literatur. Allein für diese Kürzestgeschichten haben sich Reformation und Aufklärung schon gelohnt. Auf knappstem Raum entwirft Hebel ganze Romane in der Nuss. Das ist erhellend, anregend, erbaulich und amüsant. Wie die Geschichte von dem katholischen und dem evangelischen Bruder, die sich wechselseitig so oft bekehren, dass sie am Ende nicht mehr wissen, wo sie hingehören. Auch war Hebel einer der wenigen christlichen Autoren in Deutschland, der mit Sympathie und Verständnis von armen und bedrängten Juden erzählt hat. Und dann findet sich hier auch eine Geschichte für unsere Gegenwart: „Das Unglück der Stadt Leiden“. Mit wenigen Strichen zeigt Hebel, was geschieht, wenn eine Katastrophe über ein Gemeinwesen kommt: „Da sah man denn auch, wie es am Abend leicht anders werden kann, als es am frühen Morgen war, nicht nur mit einem schwachen Menschen, sondern auch mit einer großen und volkreichen Stadt.“ Diese Kalendergeschichte wie auch alle anderen kann auch kostenfrei im Internet lesen, wem die Gesamtausgabe zu viel und zu teuer sein sollte.

Hebel: Johann Peter: Gesammelte Werke. Kommentierte Lese- und Studienausgabe in sechs Bänden. Hg. von Jan Knopf, Franz Littmann und Hansgeorg Schmidt-Bergmann unter Mitarbeit von Esther Stern im Auftrag der Literarischen Gesellschaft Karlsruhe. Göttingen: Wallstein 2019. ISBN 978-3-8353-3256-0, geb.: 69,00 €

Kalendergeschichten online

Hochschul- und Studierendenpfarrerin Christiane Thiel empfiehlt:

Erhellende Lektüre über die Dynamik des Denkens

Wenn eine Idee in Totalitarismus abgleitet, werden aufmerksame Menschen unruhig. Die Freiheit der Menschen ist in Gefahr und die Freiheit des Denkens wird einer – gern naturwissenschaftlich (materialistisch) begründeten Überzeugung - untergeordnet. So hat Brigitte Reimann die fünfziger und sechziger Jahre der DDR beschrieben und in sagenhafte Worte gefasst. Dabei erfindet sie eine Protagonistin, Franziska Linkerhand, die die aufregendste Frauenfigur in der deutschsprachigen Literatur ist und bis heute ihresgleichen sucht.

Eine junge Architektin sucht nach der großen Liebe und dem Sinn des Lebens, in dem sie auch eine erfüllende und gute Arbeit findet. Sie will sich selbst und ihren Idealen treu bleiben, wobei ihr die ignoranten Männer und die strikte Borniertheit der DDR in die Quere kommen. Die Liebesgeschichten bleiben patriarchal und oftmals erniedrigend, die Arbeit im sozialistischen Architekturbetrieb ist enttäuschend und beklemmend. Reimann beschreibt dieses Leben als Innenschau voller Intensität und Wahrhaftigkeit.

Es lohnt sich, dieses Buch in die Hand zu nehmen und es nicht wieder weg zu legen, bevor der letzte sprachliche Genuss verklungen ist. Jede Seite ist Literatur und manche Wahrheit wird Sie überraschen, die in diesen Tagen zu beachten sein könnte.

Reimann, Brigitte: Franziska Linkerhand. Roman. 14. Aufl. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verl. 2000. 639 S. ; 19 cm. ISBN 978-3-7466-1535-6, kt.: 12,99 €

OKR Joachim Ochel, Theologischer Referent beim Bevollmächtigten des Rates der EKD, empfiehlt:

Eine freundliche Kollegin hatte mir vor kurzem das Buch zur Lektüre während eines mehrtägigen Krankenhausaufenthaltes ausgeliehen. Ihr Tipp erwies sich für mich als Volltreffer: Amos Oz, Unter Freunden.

Acht Erzählungen – nie länger als 30 Seiten –, die die Leserschaft mitnehmen in einen Kibbuz der fünfziger Jahre. Acht Portraits von Kibbuzniks, die die Sehnsucht nach einem anderen Leben in der Gemeinschaft des Kibbuz zusammenführt und die doch erfahren müssen, dass die elementaren Kräfte menschlicher Existenz stärker sind als die Möglichkeiten der Vergemeinschaftung: Einsamkeit, Liebe, Verlust, Tod, Sehnsucht, Verzicht und Verlangen. Jedes Portrait zeichnet eine je eigene Welt nach, auch wenn alle acht Welten sich an ein- und demselben Ort miteinander verbinden und aufeinander beziehen: dem Kibbuz Jikhat. So nimmt man das Buch in die Hand, liest eine Erzählung, legt es zur Seite und liest später die nächste Geschichte. Dabei begegnet man erneut bereits bekannten Personen, lernt sie aus einer anderen Perspektive kennen, bis sich das Soziogramm des Kibbuz vor den Augen der Lesenden vervollständigt. Doch mehr noch als das: die Grundfragen des Lebens werden behutsam und mit der für Amos Oz typischen Menschenfreundlichkeit in diesen Erzählungen aufgeworfen. Und zwischen den Zeilen kann man in den Alltagskonflikten der Kibbuz Gemeinschaft bereits die Abgründe des israelisch-palästinensischen Konflikts abgebildet sehen. Vermutlich, weil der Mensch so ist, wie er ist.

Mit den in hebräischer Originalausgabe im Jahr 2012 erschienen Geschichten knüpft Amos Oz, der 1939 in Jerusalem geboren wurde und mit recht als der bedeutendste Autor Israels der letzten Jahrzehnte gilt, an seinen Bestsellererfolg Eine Geschichte von Liebe und Finsternis an und konzentriert den Blick auf eine für ihn selbst sehr bedeutsame Zeit. Von 1954 an hat Amos Oz 35 Jahre im Kibbuz Chulda ca. 40 km südöstlich von Tel Aviv gelebt. Nach seinem Tod 2018 fand er dort seine letzte Ruhestädte. Mit Unter Freunden hat Amos Oz der Kibbuz-Bewegung ein literarisches Denkmal gesetzt und zugleich einen Abgesang darauf angestimmt.

Amos Oz: Unter Freunden. Dt. von Mirjam Pressler. 5. Aufl. Berlin: Suhrkamp Verlag 2014. (st 4509). 215 S. ; 19 cm. Aus d. Hebr. ISBN 978-3-518-46509-7, kt.: 9,00 €

Landesbischof Ralf Meister empfiehlt:

Welche Bücher greife ich in Wochen wie diesen aus dem Regal? Mich neigt es zu kurzen Zeilen. Minutenlektüre, die tagelang nachklingt. Darunter die Gedichte von Uwe Kolbe, „Die sichtbaren Dinge“.

Im Zerfall des scheinbar gewohnten Weltlaufs finde ich Konzentration in seinen Stanzen. Acht Verse. Eigentlich bezeichnet die Stanze den Wohnraum. Bei Kolbe ist es der Wohnraum poetischer Gedanken. Sie umschreiben eine Person, einen Natureindruck, einen Gedanken und geben ihnen ein Zuhause. Wenige Verse, doch jedes einzelne Wort schafft die Inneneinrichtung dieser Räume wie in der Der Zwischenraum: „Es gibt ein Leben still wie das der stillen Tiere, / achtsam, einander nicht den Weg zu nehmen. / Viel Raum der Welt leert sich hinaus ins All / und sieht dabei blutrot aus wie das letzte Licht.“.

Der Zweifel an dem Gesehenen und Erlebten fragt nach den „sichtbaren Dingen.“ So beschreibt Uwe Kolbe Miniaturen der Lebenswirklichkeit. Momente, in denen ganze Geschichten in wenigen Worten erzählt sind. Es ist das Fenster, die Tür, der Schnitt, die einen Blick durch die erfahrene Wirklichkeit erlauben: In Sichelmond : „Es hat jemand in den Himmel geschnitten, / im Blau ist ein Schlitz, / hindurch dringt der gleißende Schein, / die Waffe ein Küchenmesser vielleicht...“.

Die Suche nach einer neuen Betrachtung der Wirklichkeit ist keine souveräne Durchschreitung. Sie endet zumeist im Zwiespalt, der Ambivalenz, der Demut. Die Nordsee: „Wir kommen ans Meer aus zwei Gründen: / erhaben zu sein und uns nichtig zu finden.“

Uwe Kolbe lässt mich Abend um Abend sinnen über die Macht und Ohnmacht des Menschen, der sich aufmacht die Welt zu durchdringen und nicht mehr schafft, als eine kleine Luke in eine neue Wirklichkeit zu öffnen.

Uwe Kolbe: Die sichtbaren Dinge. Gedichte. Leipzig: Poetenladen 2019. 72 S. ; 21 cm. ISBN 978-3-940691-98-9, geb.: 18,80 €