Pride Month 2023
Der Juni steht im Zeichen der Regenbogenflagge: Es ist Pride Month! Wir haben aktuelle, empfehlenswerte queere Titel für euch zusammengestellt.

Alle meine Freunde. Larysa Denysenko. Ill. von Masha Foya. Dt. von Mila Piredda. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verl. 2022. O. Pag. : überw. Ill. ; 24 cm. Aus d. Engl. ISBN 978-3-499-01119-1, geb.: 15,00 €
Alle 17 Kinder aus Majas Grundschulklasse in der Ukraine leben in ganz unterschiedlichen Familienstrukturen.
Maja stellt uns ihre Freunde vor: Da gibt es die Zwillinge Sofia und Solomia, die durch eine künstliche Befruchtung entstanden sind. Oder eine weitere Sofia, die allein mit ihrer Mutter von der Krim umgesiedelt wurde, Sofias Vater ist im Krieg verschwunden. Hrystyna wohnt bei ihrer Oma und skypt mit ihren Eltern, die in anderen Ländern arbeiten. Pedro lebt als Roma in einem großen Clan, Maja selbst hat zwei Mütter. Und es gibt eine kluge Lehrerin, die immer wieder auf den gegenseitigen Respekt der Kinder achtet. So hat jedes der Kinder eine Geschichte, die sich für das jeweilige Lesealter mit einem Gespräch vertiefen lässt. Begleitet werden die kurzen Episoden mit modernen, etwas kantigen Illustrationen in gemischt-bunten Farben, die den Text stimmig abstrahieren. In einem eindringlichen Nachwort wünscht sich die betagte Autorin eine beschützte und friedliche Umgebung für Kinder.
Das engagierte Bilderbuch zeigt einfühlsam und kindgemäß die unterschiedlichen Formen des Zusammenlebens in Familien. Im Gespräch können viele Themen auch politische Dimensionen entfalten. Sehr empfohlen.
Signatur: Jm 1
Schlagworte: Familie / Diversität / Respekt / Ukraine
Bewertung: ++
Rez.: Natascha Rothert-Reimann

Und deine Familie? Charlotte Bellière. Ill. von Ian De Haes. Dt. von Maxime Pasker. Hg. von Christel Rech-Simon. Heidelberg: Carl Auer 2022. O. Pag. : überw. Ill. ; 28 cm. (Carl-Auer Kids). Aus d. Franz. ISBN 978-3-96843-032-4, geb.: 19,95 €
11 Kinder versammeln sich, um Familie zu spielen – und das erweist sich als ganz schön kompliziert!
Nach und nach treffen immer mehr Kinder ein und überlegen, was sie spielen wollen. Familie vielleicht? Jedes Kind, das hinzukommt, erläutert die eigene Familienkonstellation und ihre Besonderheiten. Und damit beginnen die Schwierigkeiten, denn: Wie soll sie nun eigentlich aussehen, die Familie im Spiel? Wie viele Zuhause und Elternteile braucht eine richtige Familie? Ist es schöner als Einzelkind oder habe ich mit Geschwistern mehr Spaß? Immer neue Fragen sind zu besprechen. Nur dem kleinsten Mitspieler ist all das egal: er will auf jeden Fall das Baby sein!Kind für Kind wird der Begriff der Familie erweitert, Klischees hinterfragt und viele Gesprächsanlässe gegeben. Ein Rundumschlag in Sachen Diversität, der vielleicht etwas zu angestrengt versucht, in Wort und Bild alles abzudecken. So verlieren denn am Ende auch die Kinder die Lust und entscheiden sich für ein anderes Spiel. Gewiss bleibt nur: Auch hier will der Kleinste das Baby sein!
Augenzwinkernder, prallvoller Anlass zu gemeinsamen Betrachten und Gespräch in der Familie, Kindergarten und früher Grundschule.
Signatur: Jm 1
Schlagworte: Familie / Diversität / Toleranz
Bewertung: ++
Rez.: Katrin Hedke

Hach, Lena: Fred und ich. Weinheim: Beltz & Gelberg 2023. 95 S. ; 21 cm. ISBN 978-3-407-75719-7, geb.: 12,00 €
Mit der ersten Begegnung von Anni und Fred verändert sich vieles.
Der Tod ihres Onkels hat die 13jährige Anni verstört. Seit seinem Unfall versucht sie alles, um für sich lebensbedrohende Risiken auszuschließen. Am See, wo sie sich durch regelmäßiges Eisdbaden abzuhärten versucht, trifft sie auf den gleichaltrigen Fred. Zwischen den beiden entspinnt sich im Verlauf einer Woche eine zarte Beziehung. Beide versuchen mit den Ängsten und Nöten der jeweils anderen Person sensibel umzugehen. Denn Fred leidet darunter, dass seine Tante, bei der er die Ferien verbringt, seine Transidentität nicht anerkennt und ihn immer wieder als Mädchen anspricht.Lena Hach erzählt die Geschichte in behutsamer, ungekünstelter Sprache, ohne großes Drama, aber dennoch fesselnd. Beide Protagonisten müssen für sich selbst Ängste überwinden und stärken sich dabei gegenseitig den Rücken. Sie hören aufeinander und finden die richtigen Worte, die anderen Menschen im Umfeld fehlen.
Eine zart erzählte Geschichte um eine erste Liebe, gleichzeitig ein kurzes, knappes Lehrstück über den Umgang mit sensiblen Themen für alle Menschen ab 11 Jahren.
Signatur: Ju 2
Schlagworte: Transidentität / diskriminierungssensible Sprache / erste Liebe / Trauma
Bewertung: +++
Rez.: Birgit Schönfeld

Gonzales, Sophie u. Dietrich, Cale: If this gets out. Roman. Dt. von Christel Kröning. Hamburg: Carlsen 2023. 457 S. ; 22 cm. Aus d. Engl. ISBN 978-3-551-58468-7, kt.: 15,00 €
Eine homosexuelle Beziehung innerhalb der mega-angesagten Boyband zeigt, welch hohen Preis sie für den Erfolg zahlen.
Die vier Jungs der Boyband „Saturday” sind trotz ihres jungen Alters schon seit Jahren „big in business”; ihr Bandname ist weltweit Hashtag Nummer eins. Als Marionetten ihres Managements und Freiwild für die Fans gehen sie auf Europatour. Da passiert es: Zwei der Jungs - Zach und Ruben - verlieben sich ineinander. Peinlichst wird darauf geachtet, dass nichts davon nach außen dringt – angeblich zum Schutz der Jungs. Doch die revoltieren schließlich gegen die knebelvertraglich geregelte Diktatur ihres knallharten Managements. Beschreibungen und Diskussionen ziehen die Story in die Länge. So genau muss man gar nicht wissen, wie der Alltag als Teenie-Mega-Star aussieht, da wurde zu viel gewollt. Die Entwicklung der homosexuellen Beziehung aus einer Freundschaft heraus ist dagegen sehr gelungen, wenngleich die Figuren nicht richtig griffig sind. Und: die deutsch übersetzten Songtitel wirken bei einer US-Band irgendwie befremdlich.
Unterm Strich ist es eine queere Friends-to-Lovers-Romance, in die man nicht zuletzt wegen Zach und Ruben, die achtsam miteinander und ihren Gefühlen umgehen, gut abtauchen kann.
Signatur: Ju 3
Schlagworte: Friends-to-Lovers-Romance / Homosexualität / Boyband / Fremdbestimmtheit im Musik-Business
Bewertung: ++
Rez.: Katja Henkel

Kiyoko, Hayley: Girls like girls. Sag mir nicht, wie ich mich fühle. Roman. Dt. von Yola Schmitz. München: dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co.KG 2023. 318 S. ; 21 cm. Aus d. amerikan. Engl. ISBN 978-3-423-74096-8, kt.: 16,95 €
Coley verliebt sich in Sonya – Sommerdrama mit Happy End.
Nach dem Selbstmord ihrer depressiven Mutter muss die 17-jährige Coley zu einem Vater ziehen, den sie zu zuletzt gesehen hat, als sie 3 Jahre alt war. Bei ihrem ersten Ausflug in der neuen Umgebung trifft sie auf Sonya – und bei Coley ist es Liebe auf den ersten Blick. Auch Sony wirkt flirty, scheint aber einen Freund zu haben, den Schulbully Trenton. Vorsichtig nähern sich die Mädchen einander an, bis es zum langersehnten ersten Kuss kommt. Doch dann zieht sich Sonya plötzlich zurück und will mit Coley nichts mehr zu tun haben.
„Drama, Baby!“, möchte man beim Lesen dieses Romans rufen. Wer sich für ihn entscheidet, kann sich auf eine geballte Ladung Emotionen einstellen. Kitschig, aber damit auch nah dran an der Gefühlslage eines Teenie-Pärchens, das seine erste Verliebtheit erlebt. Wenn dann noch ein Coming-Out ansteht, vor dem zumindest eine von beiden sich sehr fürchtet, dann ist das große Drama einfach vorprogrammiert.
Für Leser:innen, die sich von großen Gefühlen nicht abschrecken lassen, ein Romance-Traum. Es macht Freude, dass queere Liebesgeschichten zunehmend auch einfach mal krass kitschig sein dürfen. Fun fact: „Girls like Girls“ war erst ein Song der Sängerin und Schauspielerin Kiyoko, der dann zu diesem Roman wurde.
Signatur: Ju 3
Schlagworte: Queer / LSBT*Q / Liebe / Familie
Bewertung: ++
Rez.: Wiebke Mandalka

Lo, Malinda: Last night at the telegraph club. Roman. Dt. von Beate Schäfer. München: Dt. Taschenbuch Verl. 2023. 444 S. ; 22 cm. Aus d. amerikan. Engl. ISBN 978-3-423-76419-3, geb.: 19,00 €
Liebesgeschichte im San Francisco der 50er Jahre.
Mitte der fünfziger Jahre lebt Lily mit ihrer Familie als Teil der chinesischen Community in San Francisco. In ihrem letzten Highschool-Jahr freundet sie sich mit Kathleen an, mit der sie Träume von einer Zukunft teilt, die für Frauen in der damaligen Zeit nicht vorgesehen ist. Gemeinsam ist ihnen auch die Faszination für den Telegraph Club, wo die „Herrenimitatorin” Tommy Andrews auftritt. Und so schleicht sich Lily eines Nachts aus dem Haus und betritt mit Kathleen eine neue Welt, in der sie sich noch näher kommen. Bis es schließlich zu einer folgenschweren Razzia kommt.Ein ganz wunderbar leicht zu lesender Roman über das Erwachsenwerden, eine berührende Liebesgeschichte historisch eingebettet in die Jahre nach McCarthy. Eine Geschichte über Freundschaft, Loyalität und das Finden der eigenen Identität, in kleinen Szenen fein herausgearbeitet. Das Buch ist so spannend und der historische Rahmen so perfekt, dass man sich am Ende fast schon betrogen fühlt, den genauen Werdegang der beiden nicht ergooglen zu können.
Ein hervorragend recherchierter und packend erzählter Roman, den man kaum aus der Hand legen kann. Ganz klare Lese- und Anschaffungsempfehlung!
Signatur: Ju 3 | SL
Schlagworte: LGBTQ+ / USA / Erste Liebe / 50er Jshre
Bewertung: +++
Rez.: Sabine Klohn

Oseman, Alice: Heartstopper - Boy trifft Boy. Dt. von Vanessa Walder. Bindlach: Loewe 2022. 285 S. : überw. Ill. ; 22 cm. (Volume 1). Aus d. Engl. ISBN 978-3-7432-0936-7, geb.: 15,00 €
Der 14-jährige Charlie freundet sich mit Nick an, doch merkt er bald darauf, dass er mehr für diesen empfindet.
Charles Spring ist schwul - nach seinem Outing in der Schule wissen das alle. Das scheint für ihn auch kein Problem zu sein, bis er sich in den zwei Jahre älteren Nick anfreundet und schlussendlich verliebt. Denn Nick, der beliebten Rugby-Spieler, ist auf keinen Fall homosexuell, oder?Die Graphic Novel ist sauber und ansprechend, wenn auch schlicht, gezeichnet. Auch die Geschichte um Nick und Charlie ist einfach gehalten, ohne sich in zu viele Details zu verlieren. Eine kurze Wohlfühl-Lektüre mit Cliffhanger für all jene, die sich mit ihrer eigenen Sexualität auseinandersetzen oder einfach gerne Geschichten rund um LGBTQ+-Charaktere lesen wollen. Der Band enthält auf den letzten Seiten ein paar zusätzliche Informationen sowie Steckbriefe zu den wichtigsten Charakteren der Geschichte.Bisher sind in 4 Bände zu dieser Reihe erschienen. Band 3 wurde 2020 mit den Goodreads Choice Award in der Kategorie Beste Graphic Novels & Comics ausgezeichnet.
Die Geschichte eignet sich besonders für Jugendliche ab 13 Jahren.
Signatur: Ju 3
Schlagworte: Graphic Novel | LGBTQ+ | Homosexualität | Liebe
Bewertung: ++
Rez.: Stefanie Schmettlach

Quindlen, Kelly: She Drives Me Crazy. Dt. von Ulrike Brauns. Hamburg: Carlsen 2022. 286 S. ; 22 cm. Aus d. Engl. ISBN 978-3-551-58494-6, kt.: 14,00 €
Scottie will ihre Ex mit Erzfeindin Irene eifersüchtig machen. Ob das gut geht?
Scottie ist leidenschaftliche Basketballerin. Doch an ihrer Schule zählen nur die Jungs und das Fußballteam der Mädchen. Deshalb hat ihre Freundin Tally sie verlassen, denn auf der benachbarten Highschool hat der Basketball einen höheren Stellenwert und Scottie passt da nicht mehr in ihr Leben rein. Scottie kommt über die Trennung nicht hinweg. Als ihre Erzfeindin ihr ins Auto fährt und die beiden kurzzeitig zu einer Fahrgemeinschaft wider Willen werden, entsteht in ihr ein Plan: Sie gibt Irene das Geld für die Autoreparatur, dafür spielt Irene ihre neue Freundin, um Tally eifersüchtig zu machen. Wie zu erwarten geht der Plan ganz anders auf als gedacht und Gefühlswirrwarr ist vorprogrammiert.Eine richtig schöne, kitschige, lesbische Liebesgeschichte für Jugendliche, die aber ab und an auch mehr ist als nur das. So bricht der Roman immer wieder überraschend mit Vorurteilen, die bei den Leser*innen vorab geschickt aufgebaut wurden. Erfrischend ist, dass die Themen Homosexualität und Coming-Out zwar angesprochen, aber nur wenig problematisiert werden. Scottie ist lesbisch, so ist das einfach.
Eine herzerwärmende queere Romanze.
Signatur: Ju 3
Schlagworte: Liebe / Homosexualität / Liebeskummer / Sport)
Bewertung: ++
Rez.: Wiebke Mandalka

Silvera, Adam: More happy than not. Roman. Dt. von Lisa Kögeböhn. Zürich: Arctis 2022. 409 S. ; 22 cm. Aus d. Engl. ISBN 978-3-03880-058-3, geb.: 18,00 €
Was wäre, wenn es die Möglichkeit gäbe, schlimme Erinnerungen zu löschen?
Die Lebenswirklichkeit Jugendlicher in der Bronx ist hart. Aarons Vater hat sich umgebracht. Aaron lebt mit seiner Mutter und seinem Bruder in einer Zweizimmerwohnung, trotzdem ist er eng mit seinem Block und seinen Freunden dort verbunden. Mit diesen vertreibt er sich die Zeit mit sportlichen Spielen, wie der Treibjagd, einer aggressiven Form des Versteckens, bei dem der Gefundene fliehen darf, wenn er nicht niedergerungen oder festgehalten wird. Dabei lernt er Thomas aus einem Nachbarblock kennen, mit dem er sich anfreundet und der ihm hilft seiner Freundin einen tollen Geburtstag zu organisieren. Aaron fühlt sich zwischen Freund und Freundin hin- und hergerissen. Könnte er nur seine Homosexualität vergessen machen. - Flüssig und spannend zu lesen, mit überraschenden Wendungen, gibt das Buch des routinierten Jugendbuchautoren Adam Silvera Einblick in die Seelenwelt heranwachsender Homosexueller, die auch in unserer westlichen Welt noch vielen Anfeindungen ausgesetzt sind. Ab 14 Jahre.
Wäre das Leben leichter, wenn wir schlechte Erinnerungen einfach löschen könnten und gehört Homosexualität zu diesen Erinnerungen?
Signatur: Ju 3
Schlagworte: Homosexualität / Junge / Nordamerika / LGBT+
Bewertung: ++
Rez.: Bärbel McWilliams

Have Pride. Meilensteine und Persönlichkeiten der LGBTIQ*-Bewegung. Stella Caldwell. Ill. von Season of Victory. Dt. von Katharina Erben. Einleitung von Layton Williams. Münster: Coppenrath 2022. 127 S. : überw. Ill. ; 24 cm. Aus d. Engl. ISBN 978-3-649-64311-1, geb.: 18,00 €
Geschichte der Pride Bewegung, die sich für Freiheit bei der sexuellen Orientierung einsetzt, anhand von Lebensläufen.
Obwohl Wörter wie „homosexuell“, „bisexuell“ und „transgender“ erst im 20. Jahrhundert in Mode kamen, gibt es Hinweise auf gleichgeschlechtliche Liebe in vielen Kulturen seit es Menschen gibt. Die Verfolgung und Benachteiligung dieser Menschen kann ab 342 n. Chr. nachgewiesen werden, als ein spätrömisches Gesetz die gleichgeschlechtliche Ehe verbietet. Dieser farbenfrohe Band richtet sein Augenmerk jedoch auf die Zeit ab 1867 als der deutsche Schriftsteller Karl Heinrich Ulrichs erstmal öffentlich die Homosexualität verteidigt und 1897 als der Arzt Magnus Hirschfeld in Berlin das wissenschaftlich-humanitäre Komitee gründet, die erste Organisation, die sich für die Homosexuellen-Rechte einsetzte. Dass 2001 die Niederlande als erstes europäisches Land die gleichgeschlechtliche Ehe legalisiert, zeigt das wachsende Selbstbewusstsein einer Bewegung, die sich den Namen Pride (Stolz) gegeben hat. - Anhand vieler Biografien, Bilder und Kommentare aus der „Community“ erschütternd und kurzweilig zu lesen.
Ein wichtiger Einblick in Minderheitenrechte zum Diskurs in Gemeinden, da die Kirchen maßgeblich an der Verfolgung beteiligt waren.
Signatur: Js
Schlagworte: LGBTQ / Homosexualität / Menschenrechte / Gesellschaftliches Engagement
Bewertung: +++
Rez.: Bärbel McWilliams

de L’Horizon, Kim: Blutbuch. Roman. 3. Aufl. Köln: DuMont 2022. 334 S. ; 22 cm. ISBN 978-3-8321-8208-3, geb.: 24,00 €
Ein Roman, der in verschiedenen Textsorten nach Identität, Familie(ngenealogie) und Zugehörigkeit sucht.
„Blutbuch“ wird in 5 Kapiteln erzählt. Die ersten beiden Kapitel drehen sich um das Aufwachsen des Kinders bei der Meer und der Großmeer (berndeutsch für Mutter und Großmutter). Die Kindheit ist geprägt vom Kampf gegen die Eishexe, in die sich die Meer manchmal verwandelt und von der Frage, wann das Kind sich entscheiden muss, ob es ein Mann oder eine Frau werden will. Zuflucht und Geborgenheit findet das Kind bei der Blutbuche im Garten, um die sich das dritte Kapitel dreht. Das mittlerweile erwachsen gewordene Kind, nun Kim genannt, forscht nach der Herkunft und Verbreitung der Blutbuchen in Europa. Als die Großmutter im 4. Kapitel mit Demenz in ein Altersheim kommt, vermischt sich diese Recherche mit den Forschungen zur familiären Stammbaum. Ein beeindruckender Text, der mit Textsorten, Gattungen und Sprache spielt und sehr innovativ verschiedene Erzählformen miteinander verwebt, um der eigenen Familengeschichte und deren Verflechtungen mit der persönlichen Identität und der europäischen Kulturgeschichte aufzuspüren.
Ein beeindruckender Roman, der den deutschen Buchpreis 2022 gewonnen hat.
Signatur: SL
Schlagworte: Familie / LGBTQ / Demenz
Bewertung: +++
Rez.: Miriam Weinrich

Evaristo, Bernardine: Mr. Loverman. Roman. Dt. von Tanja Handels. Stuttgart: Klett-Cotta 2023. 330 S. ; 22 cm. Aus d. Engl. ISBN 978-3-608-50489-7, geb.: 25,00 €
Das späte Coming-out eines karibischen Einwanderers im London der frühen 2000er Jahre.
Der 74jährige Barrington Jedidiah Walker hält so manche Überraschung parat: Als Einwanderer von der Karibik-Insel Antigua arbeitete er vierzig Jahre bei Ford Motors in London Dagenham, belegte aber nebenher Abendkurse, um das ihm verwehrte Universitätsstudium wieder wettzumachen. In den 1960er Jahren begann er, erfolgreich in Immobilien zu investieren und machte die Arbeit als Maschinenschlosser zu seinem eigenen Vergnügen weiter. Schließlich ist er seit 50 Jahren mit der strenggläubigen Carmel verheiratet, führt jedoch seit Jahrzehnten heimlich eine Beziehung mit seinem Jugendfreund Morris.
Als Carmel darüber nachdenkt, ihren schwer kranken Vater auf Antigua zu besuchen, wächst in Barrington der Beschluss, sich endlich zu seiner Sexualität zu bekennen.
Humorvoll erzählt die Autorin vom Coming-out des liebenswerten Dandys, gibt aber auch der enttäuschten Ehefrau in sechs Kapiteln eine Stimme.
Ein Buch voller Poesie, Ironie und literarischer Experimentierfreude. Für geübte Leser:innen und Freund:innen moderner, feministischer Literatur.
Signatur: SL
Schlagworte: Liebe / Homosexualität / Ehe
Bewertung: +++
Rez.: Amelie Sareika

Stuart, Douglas: Young Mungo. Roman. Dt. von Sophie Zeitz. München: Hanser Berlin 2023. 413 S. ; 22 cm. Aus d. Engl. ISBN 978-3-446-27582-9, geb.: 26,00 €
Das gewaltvolle Leben eines schwulen Jugendlichen im Schottland der 1990er Jahre.
Nach „Shuggie Bain“ legt Douglas Stuart seinen zweiten Roman vor. Es geht ins Glasgow der 1990er – in die Sozialbauwohnungen des East Ends. Straßenkämpfe zwischen Katholik:innen und Protestant:innen, Verbitterung und Hoffnungslosigkeit sind an der Tagesordnung. Mittendrin: der wunderschöne Teenager Mungo, der im Gegensatz zu seinen älteren Geschwistern so gar nicht in diese Welt passt. Auf zwei Zeitebenen wird einerseits seine zarte Liebesgeschichte mit dem Nachbarsjungen James erzählt – andererseits ein beklemmender Angelausflug mit zwei Männern, den seine alkoholkranke Mutter verordnet hat. Homophobie, Arbeiter:innenelend und Verwahrlosung prägen das Geschehen. Die vielen expliziten Beschreibungen von (sexualisierter) Gewalt bringen die Leser:innen möglicherweise durchaus an ihre emotionalen Grenzen - und sorgen für eine Befremdung, die die Lektüre nachhaltig stört. Trotzdem ist der Roman gut konstruiert und meisterhaft erzählt – Douglas Stuart gelingt es, das soziale Elend, familiäre Abhängigkeiten und die düstere Atmosphäre Glasgows anhand der persönlichen Schicksale seiner beeindruckend gezeichneten Figuren zum Leben zu erwecken.
Das Buch braucht unbedingt eine Trigger-Warnung: explizite Gewaltbeschreibungen, explizite Beschreibungen von sexualisierter Gewalt.
Signatur: SL
Schlagworte: Schottland / Klassismus / Armut / LGBTQ
Bewertung: ++
Rez.: Mara Becker

Winman, Sarah: Lichte Tage. Roman. Dt. von Elina Baumbach. Stuttgart: Klett-Cotta 2023. 232 S. ; 21 cm. Aus d. Engl. ISBN 978-3-608-98087-5, geb.: 22,00 €
Nach tiefer Trauer um Frau und Freund findet Ellis den Mut, sein Leben zu verändern und sich seinem Talent zu widmen.
Ellis arbeitet seit vielen Jahren in einer Autofabrik in Oxford. Als er es schafft, sich mit der Trauer um den Unfalltod seiner Frau Annie und seines besten Freundes Michael auseinanderzusetzen, werden Erinnerungen an glückliche Zeiten lebendig: Seine früh verstorbene Mutter liebte das Sonnenblumenbild von Van Gogh, es bekräftigte sie in ihrem Glauben an die Kraft der Kunst und Poesie. Michael und er folgten ihrem Traum, entflohen dem düsteren Arbeitermilieu ihrer Heimat und reisten nach Frankreich, in van Goghs Licht des Südens. Dort konnten sie ihr künstlerisches Talent entwickeln, auch ihre Liebe zueinander wuchs über erste homosexuelle Erfahrungen hinaus. Doch zurück in Oxford heiratete Ellis die in Bücher vernarrte Annie, trotzdem entstand eine tiefe Freundschaft zwischen den drei feinfühligen Menschen. Erst Michaels hinterlassene Aufzeichnungen offenbaren dessen Sicht auf die gemeinsame Zeit und die Jahre vor dem Unfall. Und sie inspirieren Ellis, Michaels Spuren zu folgen.
Trotz der häufigen Zeitsprünge gelingt es zunehmend, in die Atmosphäre des bezaubernden Romans um Liebe und Verlust einzutauchen und sich gefangen nehmen zu lassen. Sehr empfohlen.
Signatur: SL
Schlagworte: Liebe / Homosexualität / Frankreich / Trauer
Bewertung: +++
Rez.: Natascha Rothert-Reimann

Yaghoobifarah, Hengameh: Ministerium der Träume. Roman. Berlin: Blumenbar 2021. 380 S. ; 21 cm. ISBN 978-3-351-05087-0, geb.: 22,00 €
Vom Aufbrechen und Ankommen.
Die 1991 in Kiel geborene Hengameh Yaghoobifarah erzählt in ihrem ersten Roman die Geschichte zweier Schwestern, die im Iran geboren wurden und in Lübeck aufwuchsen. Der Vater wurde im Iran hingerichtet, die Mutter hat ihre Trauer über den Verlust ihres Mannes und der Heimat nie ganz überwunden und konnte ihren Töchtern kaum helfen, in der neuen Heimat anzukommen. In diesem Umfeld versuchen Nushin und Nasrin ihren Weg zu finden; es belasten sie Fluchterfahrungen, das Gefühl, nie richtig in der neuen Heimat angekommen zu sein und auch rechtsextreme Übergriffe auf Migrant*innen. Die ältere Schwester Nushin, die bereits Mutter ist, stirbt bei einem Autounfall. Die jüngere Schwester Nasrin wittert ein Geheimnis hinter dem Tod ihrer Schwester und versucht, diesem auf die Spur zu kommen. Nasrin arbeitet als Türsteherin in einer queeren Bar; die Schwester verdiente sich zeitweise ihr Geld als Sexarbeiterin und es scheint, als habe sie dieses Milieu nie ganz verlassen.
Empfehlenswert für größere Büchereien, Die Sprache des Buches ist manchmal etwas vulgär und nicht durchgängig gut zu lesen. Das Thema des Romans aber ist wichtig und regt zu eigenem Nachdenken an.
Signatur: SL
Schlagworte: Migration / Fremdenfeindlichkeit / Homosexualität / Trauma
Bewertung: ++
Rez.: Margot Haffke