Welttag des Buches 2021 - Aktuelle Taschenbuchttipps für Literaturkreise

 

Biller, Maxim: Sechs Koffer. Roman. Frankfurt am Main: Fischer TB 2020. 197 S. ; 19 cm. ISBN 978-3-596-70016-5, kt.: 11,00 €

Ein düsteres Familiengeheimnis beeinflusst das Leben der russisch-jüdischen Familie des Autors bis in die Gegenwart.

In Maxim Billers Familie gibt es ein Geheimnis, das über zwei Generationen nicht aufgeklärt wird. Denn jeder der vier Söhne und ihre Ehefrauen hätten den Großvater verraten können, der wegen Schwarzhandels 1960 in der Sowjetunion hingerichtet wurde. Bis in die Enkelgeneration beeinflusst die nie aufgeklärte Denunziation das Miteinander der Familienmitglieder, die trotz räumlicher Entfernung alle miteinander verstrickt sind. Aus sechs Perspektiven, auch seiner eigenen als Kind und als Jugendlicher, erzählt Biller die wechselhafte und spannende Geschichte seiner russisch-jüdischen Familie in Moskau und auf der Flucht über Prag nach Hamburg und Zürich. Distanziert, doch mit wohlwollendem humorvollem Blick auf die menschlichen Schwächen seiner Figuren entsteht ein literarisches Familienporträt, in dem niemand mehr dort zu Hause ist, wo er aufwuchs und alle durchs Leben getrieben werden. Auch Billers Schwester Elena Lappin hat die Familienbiographie 2017 literarisch bearbeitet.

Für anspruchsvolle Leser mit Interesse an zeitgeschichtlichen Themen oder am Autor. Für die Diskussion in Literaturkreisen sehr gut geeignet. Auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2018.

Signatur: SL
Schlagworte: Familie | Biographie | Prag | Exil
Bewertung: ++
Rez.: Birgit Hillmer

Bogdan, Isabel: Laufen. Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2021. 199 S. ; 19 cm. ISBN 978-3-462-00158-7, kt.: 11,00 €

Mit Hilfe des Laufens verarbeitet die Ich-Erzählerin einen schweren Verlust.

Ein Gedankenstrom erwartet die Leser*innen in diesem schmalen Buch. Die Ich-Erzählerin hat einen schweren Verlust erlitten und kommt nur langsam wieder auf die Beine. Im wahrsten Sinne des Wortes: Das Laufen wird zu ihrer zweiten Therapie, bringt sie körperlich und geistig in Bewegung. Während sie anfangs noch versucht, den Gedanken davonzulaufen, lässt sie sie mit zunehmender Routine einfach strömen. So erfahren wir vom Suizid ihres Partners, wie sie, ihre Freunde und Verwandten mit dem Verlust umgehen, was ihr guttut, was sie quält, was ihre Therapeutin ihr mit auf den Weg gibt. Wir werden Zeug*innen der Entwicklung, die sie durchmacht, wie sie sich allmählich traut, sich wieder dem Leben zu öffnen, sich den Wunsch nach körperlicher Nähe zu erlauben und nicht immerzu von der Frage „Warum habe ich es nicht bemerkt?“ dominiert zu werden.

„Laufen“ ist ein Trauer- und ein Trostbuch, eine Ermutigung und bei aller Schwere des Themas auch ein Buch, das Lust aufs Leben und das Laufen macht. Ganz anders als ihr erster Roman „Der Pfau“ aber nicht weniger beeindruckend. Für mich eines der besten Bücher des Jahres. 

Signatur: SL
Schlagworte: Laufen | Trauer | Neuanfang
Bewertung: +++
Rez.: Wiebke Mandalka

Brandt, Matthias: Blackbird. Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2021. 275 S. ; 19 cm. ISBN 978-3-462-00142-6, kt.: 12,00 €

Die Angst um seinen kranken Freund und seine Gefühle für ein Mädchen erschüttern das Leben des 15jährigen Morten.

Morten ist 15 Jahre alt, als sein gewohntes Leben in Stücke zerbricht. Die Eltern lassen sich scheiden, er muss in einen anderen Stadtteil umziehen. Während er mit sich selbst und seiner ersten Verliebtheit beschäftigt ist, erreicht ihn die Nachricht, dass sein bester Freund Bogi todkrank ist. Morten ist zerrissen, er kommt mit dieser Situation nicht zurecht, versucht die Sorge um den Freund nicht an sich zu lassen. Er schafft es kaum, den Freund zu besuchen, möchte "sein altes Leben zurück“. Nach Bogis Tod erleidet Morton einen Nervenzusammenbruch. An den Titeln der erwähnten Songs erkennt man die siebziger Jahre. Es ist die Zeit, in der der Autor selbst im Alter der Protagonisten war. Ältere Leser werden sich an ihre eigene Jugend erinnern. Ob diese Geschichte vom Erwachsenwerden auch jugendliche Leser anspricht, da bin ich nicht sicher. Vieles wird ihnen fremd sein, angefangen von den Namen der Bands, Plattenläden mit Kabinen zum Musik hören, bis zu den Trockenhauben beim Friseur.

Der gut zu lesende Roman eignet sich für Literaturkreise und auch für den Kreis junger Senioren.

Signatur: SL | Ju 3
Schlagworte: Erwachsenwerden | 70er Jahre | Freundschaft | Tod
Bewertung: ++
Rez.: Eva Basler

Bronsky, Alina: Der Zopf meiner Großmutter. Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2020. 213 S. ; 19 cm. ISBN 978-3-462-00033-7, kt.: 11,00 €

Ich-Erzähler Max wächst bei seinen russischen Großeltern im Flüchtlingsheim auf.

In ihrer kleinen Wohnung hat die Großmutter ihr Königreich errichtet, das sie unnachgiebig und mit harter Hand regiert. Max lernt, dass er ein geistig und körperlich benachteiligtes und quasi sekündlich dem Tode geweihtes Kind ist. Süßigkeiten darf er sich nur anschauen, bevor die Großmutter sie verschenkt oder selbst verspeist. Als er in die Schule kommt, erhält er genaue Anweisungen, an welche Kinder er sich halten und welche er meiden soll: Türken sind wild und in Clans organisiert, Chinesen sind gut, aber man darf ihnen nicht trauen, bei Mädchen darf er stehen, aber nicht mit ihnen spielen, damit die wilden Türken ihn nicht „für eine Schwuchtel halten“. Der Großvater nimmt alles hin und geht in den passiven Widerstand, indem er sich in eine andere Frau verliebt und mir ihr ein Kind zeugt. Großes Drama würde man meinen, aber die Großmutter steckt voller Überraschungen. Mit zunehmendem Alter und Reife des Erzählers erfahren die Leser*innen mehr über die Geschichte seiner Großeltern und die Gründe für das Verhalten der Großmutter.

Ein Familienroman, in dem das meiste zwischen den Zeilen passiert und in dem Drama und Komödie bisweilen deckungsgleich sind. Lebhafte Diskussionen im Literaturkreis sind garantiert.

Signatur: SL
Schlagworte: Familie | Generationen | Resilienz | Migration
Bewertung: +++
Rez.: Wiebke Mandalka

Bürster, Helga: Luzies Erbe. Roman. Berlin: Insel 2020. 287 S. ; 19 cm. ISBN 978-3-458-68111-3, kt.: 11,00 €

Vier Frauen, vier Generationen, ein Weltkrieg und ein schwerwiegendes Geheimnis.

Als die fast 100-jährige Luzie Mazur stirbt, hinterlässt sie das „Mazur‘sche Schweigen“. Ein Schweigen darüber, was sie und ihren Mann und damit eine Liebe, die den 2.Weltkrieg überlebte, am Ende auseinandergebracht hat. Als junge Frau verliebt sie sich in den polnischen Zwangsarbeiter Jurek. Diese Liebe, die in zwei Schwangerschaften mündet, bringt nicht nur das Paar, sondern auch Luzies Familie und den gesamten Bauernhof, auf dem die beiden arbeiten in Lebensgefahr. Doch können sie nicht voneinander lassen. Warum, so fragen sich die Töchter, Enkelin und Urenkelin, verließ Jurek seine Luzie und die Kinder dann jedoch einige Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, als endlich eine Heirat möglich war und so etwas wie Alltag und Normalität hätten einkehren können? Enkelin Johanne möchte es wissen, stöbert Jurek auf, erhält aber auch hier keine Antwort. Nur die Lesenden sind im Vorteil, denn ihnen wird die Geschichte von Luzie und Jurek erzählt, sie erhalten eine Ahnung von dem, was sie er- und durchlebten. Entstanden ist eine fesselnde Geschichte um vier Generationen Mazur‘scher Frauen und um ein tragisches Liebespaar während und nach der Terrorherrschaft der Nazis.

Ein Buch, das man nur schwer aus der Hand legen kann, unsentimental und sehr berührend erzählt. 

Signatur: SL
Schlagworte: Deutschland | Zweiter Weltkrieg | Generationen | Zwangsarbeiter
Bewertung: +++
Rez.: Wiebke Mandalka

Bure, Véronique de: Die kleine Welt der Madame Jeanne. Großdruck. Roman. Dt. von Ina Kronenberger. Hamburg: Rowohlt TB 2019. 363 S. ; 19 cm. Aus d. Franz. ISBN 978-3-499-29166-1, kt.: 12,00 €

Das Porträt einer Frau, die Lust aufs Älterwerden macht.

Am Ende des Winters beschließt Jeanne ein Jahr lang Tagebuch zu führen. Sie ist froh, wieder einen Winter überstanden zu haben, was nicht selbstverständlich ist für eine Neunzigjährige. Seit dem Tod ihres geliebten Mannes wohnt sie allein, außerhalb eines Dorfes in der Auvergne. Ihre einzigen Nachbarn sind ein exzentrisches Bauern-Ehepaar. Jeden Donnerstag kommt Angèle und putzt, ein Gärtner kümmert sich um den Garten. Mit ihren Freundinnen trifft sich Jeanne in der Kirche zum Tee oder Wein, an den Feiertagen kommen ihre Kinder mit ihren Familien aus Paris und bringen kurzfristig ihr Leben durcheinander. Jeanne hat keine Angst vor dem Tod, sie möchte nur nicht krank oder dement werden. Wenn sie Nachts nicht schlafen kann, philosophiert sie in Gedanken über das Leben und hängt ihren Erinnerungen nach. Für die Zukunft muss sie nicht mehr viel planen. Ein humorvoller leiser Roman über das Leben einer Frau, die nicht über alles klagt, sondern ihr Leben so genießt wie sie es noch kann.

Eine kraftvolle und optimistische Lebensgeschichte. Gut geeignet auch für Literaturkreise.

 

Signatur: SL
Schlagworte: Alter | Familie | Lebenssinn
Bewertung: +++
Rez.: Gabriele Rojek

Capus, Alex: Königskinder. Roman. München: dtv 2020. 184 S. ; 19 cm. ISBN 978-3-423-14745-3, kt.: 10,90 €

Max und Tina müssen eine Nacht in ihrem eingeschneiten Auto auf einem Alpenpass ausharren. Zur Rettung erzählt Max eine Geschichte, die sich dort in den Bergen zugetragen hat.

Die beiden sind seit 26 Jahren ein Ehepaar, das sich im Alltag über Kleinigkeiten streitet, aber in den großen Dingen des Lebens einig ist. Sie richten sich im Auto ein und Max beginnt eine Geschichte zu erzählen, die sich gerade hier im schweizerisch-französischen Grenzgebiet zu Beginn der französischen Revolution zugetragen hat.  Die Geschichte handelt von Jakob, einem armen Hirten aus dem Greyerzerland und Marie, der Tochter eines reichen Bauern, zur Zeit der französischen Revolution. Jakob lebt allein auf der Alp und hütet dessen Kühe. Ausgerechnet in diesen Habenichts verliebt sich seine Tochter Marie, und fortan setzt der Bauer alles daran, diese Verbindung zu verhindern. Jakob wird zunächst für 8 Jahre zum Kriegsdienst verpflichtet, danach an den Hof Ludwigs XVI. geschickt. Prinzessin Elisabeth, die Schwester des Königs, hat ein eigenes Gehöft aufgebaut, mit dem Ziel, alle Menschen und Tiere auf ihrem Hof glücklich zu machen, so auch Jakob, dessen Kummer sie erkennt. – Der Roman ist eine Liebesgeschichte, in der das „Abenteuer Jakob und Marie“ mit der Liebe zwischen Max und Tina, die eingeschneit im Auto eine Nacht überstehen müssen, verbunden wird.  Gleichzeitig wird Weltgeschichte auf eine hinreißend schöne und humorvolle Art erzählt.

Allen Büchereien uneingeschränkt empfohlen!

Signatur: SL
Schlagworte: Liebesgeschichte | Literatur | Schweiz | Erzählen
Bewertung: +++
Rez.: Sophie Jünemann

Hansen, Dörte: Mittagsstunde. Roman. München: Penguin 2021. 336 S. ; 19 cm. ISBN 978-3-328-10634-0, kt.: 12,00 €

Vom Wandel in einem nordfriesischen Bauerndorf in den letzten sechs Jahrzehnten.

Marret, die leicht abgedrehte Tochter des Dorfgastwirts Sönke Feddersen, prophezeit den Bewohnern des Geestdorfes Brinkebühl stets den Weltuntergang und hat damit nicht ganz unrecht: Flurbereinigung hat die natürliche Dorfumgebung verändert, kleinbäuerliche Kultur wird durch Agrarindustrie abgelöst und die jungen Dörfler ziehen fort. Einer von ihnen ist Ingwer, Marrets Sohn mit unbekanntem Vater, der von den Großeltern aufgezogen wurde. Er hat in Kiel studiert, ist jetzt Dozent für Archäologie an der Uni und lebt seit Jahrzehnten in einer WG. Weil die Großeltern Sönke und Ella alt, hilfsbedürftig und dement sind, nimmt er ein Sabbatjahr, um sie zu pflegen. Zu den bewegendsten Szenen des Romans gehören die, in denen Ingwers Leben mit den beiden Alten beschrieben wird. Aus Ingwers Sicht werden auch die Veränderungen der dörflichen Strukturen und die Eigenheiten der Dorfbewohner reflektiert.

Allen Büchereien zu empfehlen. Wegen des großen Erfolges des Vorgängerbuches der Autorin wird „Mittagsstunde“ sicherlich viele Interessent*innen finden.

Signatur: SL
Schlagworte: Norddeutschland | Dorf | Landleben | Familie
Bewertung: +++
Rez.: Doris von Eltz

Murata, Sayaka: Die Ladenhüterin. Roman. Dt. von Ursula Gräfe. Berlin: Aufbau TB 2019. 144 S. ; 19 cm. Aus d. Japan. ISBN 978-3-7466-3606-1, kt.: 10,00 €

Die Außenseiterin Keiko lernt als Aushilfskraft in einem 24-Stunden-Supermarkt, sich in die Gesellschaft einzugliedern.

Durch Zufall stößt Ich-Erzählerin Keiko auf einen neu eröffneten Supermarkt, in Japan Konbini genannt. Dort sucht man Aushilfskräfte. Instinktiv spürt die ungelenke Frau, dass sie hier ihre Bestimmung findet. Die Welt im Konbini ist überschaubar. Keiko wird schnell zu einer unverzichtbaren Mitarbeiterin. Um nicht anzuecken, schaut sie sich die angemessene Mimik und das adäquate Verhalten bei Kollegen und Kunden einfach ab. 19 Jahre jobbt sie dort, bis der Taugenichts Shiriha auftaucht. Keiko lässt ihn, sehr zur Freude ihrer besorgten Familie, bei sich wohnen, kündigt ihren Job und macht ihm sogar einen Heiratsantrag, bis sie bald darauf wieder einen Supermarkt betritt. Da merkt sie, wo ihre wahre Liebe liegt. Dieses schmale, in mancher Hinsicht befremdliche Buch mit dem doppeldeutigen Titel ist in Japan ein vielfach ausgezeichneter Bestseller. Er geht nicht nur wegen seiner erzählerischen Schlichtheit unter die Haut. Wer sich darauf einlässt, wird eine Menge zum Nachdenken bekommen.

Eine literarische Sensation aus Japan, für Büchereien mit interessiertem Publikum bestens geeignet.

Signatur: SL
Schlagworte:
Japan | Außenseiter | Gesellschaft
Bewertung: +++
Rez.:
Martina Mattes

O´Brien, Edna: Das Mädchen. Roman. Dt. von Kathrin Razum. Hamburg: Hoffmann & Campe 2021. 252 S. ; 19 cm. Aus d. Engl. ISBN 978-3-455-01053-4, kt.: 12,90 €

Nach Verschleppung und Misshandlung durch die Boko Haram kann Maryam fliehen, muss aber erkennen, dass ihr Trauma ihr Zuhause zerstört. 

Das nigerianische Schulmädchen Maryam kann nach der Entführung von Boko Haram mit ihrer Freundin Buki dem blanken Terror und Horror in der Gefangenschaft entkommen, aber der Weg zurück ist zermürbend. Auf sich gestellt müssen sie sich durch feindliche Wildnis und niederschmetternde gesellschaftliche Ansichten ins Leben zurückkämpfen.

„Das Mädchen“ ist ein erschütternder, bewegender und teils schwer zu ertragender Roman. Edna O’Brien schreibt mit Klarheit und Bestimmtheit, aber auch mitfühlend und bewegend. Eindringlich zeigt die irische Autorin in ihrem Roman nicht nur Horrorszenarien auf, die die von Boko Haram verschleppten Mädchen ertragen mussten, sondern geht auch der Frage nach, wie diese jungen Frauen in der Gesellschaft wieder einen Platz finden können, wie mit Gewalt gegen Frauen umgegangen wird und wie Frauen es schaffen, diese zu überwinden. Bemerkenswert ist die Danksagung, in der die fast neunzigjährige Autorin den Umfang ihrer eingehenden Recherche vor Ort beleuchtet.

Ein fesselnder Roman, der lange nachhallt. Für Literaturkreise geeignet.

Signatur: SL
Schlagworte: Gewalt | Frauen | Boko Haram | Nigeria
Bewertung: +++
Rez.: Anne Tebben

Pym, Barbara: Vortreffliche Frauen. Roman. Dt. von Sabine Roth. Köln: DuMont 2020. 348 S. ; 19 cm. Aus d. Engl. ISBN 978-3-8321-6549-9, kt.: 12,00 €

Das geruhsame Leben der patenten Mildred wird von einem jungen Paar auf den Kopf gestellt.

London, Ende der 40er Jahre: Mildred - Ende 20, hilfsbereit, gläubige Anglikanerin und Single - teilt ihr Leben zwischen der Arbeit in einer Stiftung für bedürftige Damen und ihrer Gemeinde auf. Unverdrossen schmückt sie Kirchräume, organisiert eine nie enden wollende Zahl von Basaren, kocht Tee vor Sitzungen, spült danach ab und spricht auf Geheiß des Pfarrers immer mal wieder „ein Wörtchen“ mit potentiellen Kirchenbesucher*innen. Eine sehr patente, brauchbare und nicht sehr aufregende „vortreffliche Frau“ also. Als in ihr Haus ein charmanter Marineoffizier nebst unkonventioneller Gattin einzieht und ihr Pfarrer, der bisher dem Zölibat anhing, den Reizen einer attraktiven Neuzugezogenen erliegt, stellen sich plötzlich Fragen: Muss sie immer parat stehen, wenn andere ihre Hilfe in Anspruch nehmen wollen oder kann sie auch einfach mal tun, wonach ihr ist? Findet sich für sie vielleicht doch noch ein Mann? Und wenn ja, würde sie diesen überhaupt wollen?

Ein Roman, der mit Sätzen voller Esprit aufwartet. Amüsante und interessante Einblicke ins englische Gemeindeleben und in eine Zeit, in der Rollenzuschreibungen mehr oder weniger vorsichtig in Frage gestellt wurden, machen aus dem leicht und unterhaltsam zu lesenden Roman einen kleinen Genuss.  

Signatur: SL
Schlagworte:
London | Nachkriegszeit | Frauen | Rollenbilder
Bewertung: +++
Rez.: Wiebke Mandalka

Stanišić, Saša: Herkunft. München: btb 2020. 355 S. ; 19 cm. ISBN 978-3-442-71970-9, kt.: 12,00 €

Quasi ein Roadmovie des eigenen Lebens, zwischen Herkunft und Ankommen.

Wohlstands-, Wirtschafts- und Luxusflüchtlinge überfluten unser Land. Wer das immer noch glaubt, sollte diesen Roman lesen.
Wenn die Umstände das Leben so verändern, dass man das Leben ändern muss, wenn die eigene Courage, die eigene Persönlichkeit plötzlich in Frage steht, wenn also alles von einem abverlangt wird, dann sprechen wir von einem Neuanfang in einem anderen Land.
In einer so wundervollen Sprache, einem so ungemein sensiblen Erzählstil, einer so liebegefüllten Weise erzählt Stanisic aus seinem Leben, aus dem Dorf, aus dem er stammt, spricht er aus dem Leben seiner geliebten Großmutter und erzählt er aus dem Leben, das in diesem unserem Land neu starten musste.
Der Autor spricht nicht einmal „über“ das, was er erzählt. Wir begegnen hier einem Könner, der „aus“ der Erzählung spricht, der dem Leser sein Erzählen schenkt.
Darum wird hier sparsam rezensiert, weil der Leser selbst dem Erzähler zuhören soll.

Bitte unbedingt anschaffen!

Signatur: SL
Schlagworte:
Familie | Flucht | Migration | Deutschland
Bewertung: +++
Rez.: Dirk Purz

Strout, Elizabeth: Die langen Abende. Roman. Dt. von Sabine Roth. München: btb 2021. 348 S. ; 22 cm. Aus d. Amerikan. ISBN 978-3-442-77049-6, kt.: 12,00 €

Ein Wiedersehen mit alten und neuen Freunden um Olive Kitteridge aus „Mit Blick aufs Meer“.

Olive Kitteridge ist älter geworden. Ihr Mann ist gestorben. Ihr Sohn und seine Familie sind ihr fremd geblieben. Doch Olive und Jack Kennison, der ehemalige Harvard-Professor kommen sich näher. Sie werden ein Paar, ziehen zusammen, heiraten, streiten und vertragen sich. Olive wird zum zweiten Mal Witwe, hat einen Herzinfarkt, erlangt ihre Selbstständigkeit zurück und zieht dann doch in ein Seniorenheim. Ihre Geschichte wird aus wechselnden Perspektiven in unterschiedlichen Geschichten mit jeweils anderen Hauptpersonen erzählt. Manche kennt man noch aus „Mit Blick aufs Meer“. Olive mag darin auf einen Krankenbesuch vorbeikommen, oder man stößt auf dem Markt mit ihr zusammen, und sie macht eine spitze Bemerkung. „Die langen Abende“ sind natürlich eine großartige Fortsetzung von „Mit Blick aufs Meer“ aber auch ein tolles eigenständiges Werk. Unterhaltsame, facettenreiche Geschichten über einfache Leute. Und man muss nicht traurig sein, wenn man die letzte Seite umblättert. Denn dann kann man das andere Buch zur Hand nehmen und wiederum „Heimkommen“ nach Crosby, Maine.

Sehr empfohlen für jede Bücherei! 

Signatur: SL
Schlagworte: Altern | USA | Erzählungen
Bewertung: +++
Rez.:
Sabine Klohn

Thomae, Jackie: Brüder. Roman. München: btb 2021. 429 S. ; 19 cm. ISBN 978-3-442-77070-0, kt.: 12,00 €

Die Geschichte zweier Brüder, die einander nicht kennen.

In diesem Roman geht es schlicht um die Geschichte zweier Brüder, zwei gleich alte Männer, die denselben Vater haben. Sie kennen weder den Vater noch den anderen Bruder. Der Vater hat in den 70ern in der DDR studiert und in Berlin und Leipzig je eine Frau mit einem kleinen Jungen zurückgelassen. Jackie Thomae erzählt die Geschichte der Brüder fein getrennt, zuerst die eine, dann die andere - ordentlich je eine Hälfte des Romans. Dennoch läuft die Zeit chronologisch ab. Zuerst betritt Mick die Bühne, Berlin in der aufregenden Zeit nach der Wende in den 90ern. Er ist ein Szene-Tiger, eine Lok auf zwei Beinen. Hier wird eine unglaubliche Dichte und Intensität aufgebaut. Man mag sich distanzieren wollen, das gelingt aber nicht. Man wird zum Drogenkurier wider Willen. Den anderen Bruder, einen Londoner Architekten, der zwischen Anpassung und Burnout pendelt, lernt man erst im Jahr 2000 kennen. Thomae wählt hier die Form der Icherzählung, gebrochen durch die Perspektive seiner Frau.

Ein Buch, in das man sich zuerst selbst hineinstürzen muss. Wenn man dann in einem Kreis Menschen findet, die ihre Sicht beitragen, ist das sicher ein Gewinn. Zum Gespräch herausfordernd. 

Signatur: SL
Schlagworte: Brüder | Familie | Gesellschaft | DDR
Bewertung: +++
Rez.: Volker Dettmar