Newsletter "Gemeinde" 04/2020

Liebe Leserin! Lieber Leser!

Anlässlich dieser besonderen Zeiten, in denen viele von uns sehr viel Zeit zu Hause verbringen (müssen), haben wir Persönlichkeiten aus unserem Arbeitsumfeld um ihren ganz persönlichen Lesetipp gebeten. Die ersten vier Tipps haben wir in diesem NL zusammengestellt. Vielleicht haben Sie das eine oder andere Buch auch im Bücherschrank und können gleich einsteigen.

Eine gute (Lese-)Zeit wünscht Ihnen

Das Eliport-Team

 

Bewertung:
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Landesbischof Ralf Meister empfiehlt:

Welche Bücher greife ich in Wochen wie diesen aus dem Regal? Mich neigt es zu kurzen Zeilen. Minutenlektüre, die tagelang nachklingt. Darunter die Gedichte von Uwe Kolbe, „Die sichtbaren Dinge“.

Im Zerfall des scheinbar gewohnten Weltlaufs finde ich Konzentration in seinen Stanzen. Acht Verse. Eigentlich bezeichnet die Stanze den Wohnraum. Bei Kolbe ist es der Wohnraum poetischer Gedanken. Sie umschreiben eine Person, einen Natureindruck, einen Gedanken und geben ihnen ein Zuhause. Wenige Verse, doch jedes einzelne Wort schafft die Inneneinrichtung dieser Räume wie in der Der Zwischenraum: „Es gibt ein Leben still wie das der stillen Tiere, / achtsam, einander nicht den Weg zu nehmen. / Viel Raum der Welt leert sich hinaus ins All / und sieht dabei blutrot aus wie das letzte Licht.“.

Der Zweifel an dem Gesehenen und Erlebten fragt nach den „sichtbaren Dingen.“ So beschreibt Uwe Kolbe Miniaturen der Lebenswirklichkeit. Momente, in denen ganze Geschichten in wenigen Worten erzählt sind. Es ist das Fenster, die Tür, der Schnitt, die einen Blick durch die erfahrene Wirklichkeit erlauben: In Sichelmond : „Es hat jemand in den Himmel geschnitten, / im Blau ist ein Schlitz, / hindurch dringt der gleißende Schein, / die Waffe ein Küchenmesser vielleicht...“.

Die Suche nach einer neuen Betrachtung der Wirklichkeit ist keine souveräne Durchschreitung. Sie endet zumeist im Zwiespalt, der Ambivalenz, der Demut. Die Nordsee: „Wir kommen ans Meer aus zwei Gründen: / erhaben zu sein und uns nichtig zu finden.“

Uwe Kolbe lässt mich Abend um Abend sinnen über die Macht und Ohnmacht des Menschen, der sich aufmacht die Welt zu durchdringen und nicht mehr schafft, als eine kleine Luke in eine neue Wirklichkeit zu öffnen.

Uwe Kolbe: Die sichtbaren Dinge. Gedichte. Leipzig: Poetenladen 2019. 72 S. ; 21 cm. ISBN 978-3-940691-98-9, geb.: 18,80 €

 

OKR Joachim Ochel, Theologischer Referent beim Bevollmächtigten des Rates der EKD, empfiehlt:

Eine freundliche Kollegin hatte mir vor kurzem das Buch zur Lektüre während eines mehrtägigen Krankenhausaufenthaltes ausgeliehen. Ihr Tipp erwies sich für mich als Volltreffer: Amos Oz, Unter Freunden.

Acht Erzählungen – nie länger als 30 Seiten –, die die Leserschaft mitnehmen in einen Kibbuz der fünfziger Jahre. Acht Portraits von Kibbuzniks, die die Sehnsucht nach einem anderen Leben in der Gemeinschaft des Kibbuz zusammenführt und die doch erfahren müssen, dass die elementaren Kräfte menschlicher Existenz stärker sind als die Möglichkeiten der Vergemeinschaftung: Einsamkeit, Liebe, Verlust, Tod, Sehnsucht, Verzicht und Verlangen. Jedes Portrait zeichnet eine je eigene Welt nach, auch wenn alle acht Welten sich an ein- und demselben Ort miteinander verbinden und aufeinander beziehen: dem Kibbuz Jikhat. So nimmt man das Buch in die Hand, liest eine Erzählung, legt es zur Seite und liest später die nächste Geschichte. Dabei begegnet man erneut bereits bekannten Personen, lernt sie aus einer anderen Perspektive kennen, bis sich das Soziogramm des Kibbuz vor den Augen der Lesenden vervollständigt. Doch mehr noch als das: die Grundfragen des Lebens werden behutsam und mit der für Amos Oz typischen Menschenfreundlichkeit in diesen Erzählungen aufgeworfen. Und zwischen den Zeilen kann man in den Alltagskonflikten der Kibbuz Gemeinschaft bereits die Abgründe des israelisch-palästinensischen Konflikts abgebildet sehen. Vermutlich, weil der Mensch so ist, wie er ist.

Mit den in hebräischer Originalausgabe im Jahr 2012 erschienen Geschichten knüpft Amos Oz, der 1939 in Jerusalem geboren wurde und mit recht als der bedeutendste Autor Israels der letzten Jahrzehnte gilt, an seinen Bestsellererfolg Eine Geschichte von Liebe und Finsternis an und konzentriert den Blick auf eine für ihn selbst sehr bedeutsame Zeit. Von 1954 an hat Amos Oz 35 Jahre im Kibbuz Chulda ca. 40 km südöstlich von Tel Aviv gelebt. Nach seinem Tod 2018 fand er dort seine letzte Ruhestädte. Mit Unter Freunden hat Amos Oz der Kibbuz-Bewegung ein literarisches Denkmal gesetzt und zugleich einen Abgesang darauf angestimmt.

Amos Oz: Unter Freunden. Dt. von Mirjam Pressler. 5. Aufl. Berlin: Suhrkamp Verlag 2014. (st 4509). 215 S. ; 19 cm. Aus d. Hebr. ISBN 978-3-518-46509-7, kt.: 9,00 €


Hochschul- und Studierendenpfarrerin Christiane Thiel empfiehlt:

Erhellende Lektüre über die Dynamik des Denkens

Wenn eine Idee in Totalitarismus abgleitet, werden aufmerksame Menschen unruhig. Die Freiheit der Menschen ist in Gefahr und die Freiheit des Denkens wird einer – gern naturwissenschaftlich (materialistisch) begründeten Überzeugung - untergeordnet. So hat Brigitte Reimann die fünfziger und sechziger Jahre der DDR beschrieben und in sagenhafte Worte gefasst. Dabei erfindet sie eine Protagonistin, Franziska Linkerhand, die die aufregendste Frauenfigur in der deutschsprachigen Literatur ist und bis heute ihresgleichen sucht.

Eine junge Architektin sucht nach der großen Liebe und dem Sinn des Lebens, in dem sie auch eine erfüllende und gute Arbeit findet. Sie will sich selbst und ihren Idealen treu bleiben, wobei ihr die ignoranten Männer und die strikte Borniertheit der DDR in die Quere kommen. Die Liebesgeschichten bleiben patriarchal und oftmals erniedrigend, die Arbeit im sozialistischen Architekturbetrieb ist enttäuschend und beklemmend. Reimann beschreibt dieses Leben als Innenschau voller Intensität und Wahrhaftigkeit.

Es lohnt sich, dieses Buch in die Hand zu nehmen und es nicht wieder weg zu legen, bevor der letzte sprachliche Genuss verklungen ist. Jede Seite ist Literatur und manche Wahrheit wird Sie überraschen, die in diesen Tagen zu beachten sein könnte.

Reimann, Brigitte: Franziska Linkerhand. Roman. 14. Aufl. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verl. 2000. 639 S. ; 19 cm. ISBN 978-3-7466-1535-6, kt.: 12,99 €

Dr. Johann Hinrich Claussen, Kulturbeauftragter der EKD, empfiehlt:

 69 Euro sind viel Geld. Für die neue, wunderbar gestaltete, sechsbändige Gesamtausgabe der Schriften Johann Peter Hebel (1760-1826) ist dies aber ein sehr fairer Preis. Außerdem soll man sich in diesen Tagen zwischendurch etwas Gutes tun und dem Verlag oder der örtlichen Buchhandlung auch.

Man kann hier viel Unbekanntes und Überraschendes entdecken. Vor allem aber kann man Hebels „Kalendergeschichten“ von neuem lesen. Es ist das beste Stück neuzeitlich-evangelischer Literatur. Allein für diese Kürzestgeschichten haben sich Reformation und Aufklärung schon gelohnt. Auf knappstem Raum entwirft Hebel ganze Romane in der Nuss. Das ist erhellend, anregend, erbaulich und amüsant. Wie die Geschichte von dem katholischen und dem evangelischen Bruder, die sich wechselseitig so oft bekehren, dass sie am Ende nicht mehr wissen, wo sie hingehören. Auch war Hebel einer der wenigen christlichen Autoren in Deutschland, der mit Sympathie und Verständnis von armen und bedrängten Juden erzählt hat. Und dann findet sich hier auch eine Geschichte für unsere Gegenwart: „Das Unglück der Stadt Leiden“. Mit wenigen Strichen zeigt Hebel, was geschieht, wenn eine Katastrophe über ein Gemeinwesen kommt: „Da sah man denn auch, wie es am Abend leicht anders werden kann, als es am frühen Morgen war, nicht nur mit einem schwachen Menschen, sondern auch mit einer großen und volkreichen Stadt.“ Diese Kalendergeschichte wie auch alle anderen kann auch kostenfrei im Internet lesen, wem die Gesamtausgabe zu viel und zu teuer sein sollte.

Hebel: Johann Peter: Gesammelte Werke. Kommentierte Lese- und Studienausgabe in sechs Bänden. Hg. von Jan Knopf, Franz Littmann und Hansgeorg Schmidt-Bergmann unter Mitarbeit von Esther Stern im Auftrag der Literarischen Gesellschaft Karlsruhe. Göttingen: Wallstein 2019. ISBN 978-3-8353-3256-0, geb.: 69,00 €

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