Krieg und Flucht

Als der Krieg nach Rondo kam. Romana Romanyschyn u. Andrij Lessiw. Dt. von Claudia Dathe u. Oksana Semenets. Hildesheim: Gerstenberg 2022. O. Pag. : überw. Ill. ; 30 cm. Aus d. Ukrain. ISBN 978-3-8369-6203-2, geb.: 16,00 €

„Die Bewohner von Rondo wussten nicht, was Krieg war.“ Wer es wissen möchte, greife zu diesem Buch.


Aktueller könnte dieses Buch nicht sein und das spürt man auf jeder Seite. Allerdings: Das Buch des ukrainischen Künstlerduos entstand bereits 2014 als unmittelbare Reaktion auf die Annexion der Krim. Seit Herbst letzten Jahres liegt nun eine deutsche Übersetzung vor und dieses traumhaft gestaltete Buch regt gleichermaßen zum Lesen wie zum Schauen an. Im Mittelpunkt steht der Gräuel schlechthin. Dieser bricht völlig überraschend über die zauberhafte Stadt Rondo herein und verändert das Leben der drei Freunde Danko, Sirka und Fabian auf erschreckende Art und Weise. Es lohnt, sich den Bildern und der Geschichte auszusetzen, denn hier wird nichts beschönigt. Am Ende machen die Freunde glücklicherweise eine Entdeckung. Das gibt Hoffnung und ist alles andere als kindlich-naiv. Die zahlreich verwendeten Zeichen und Symbole laden gerade dazu ein, auch in pädagogischen Settings nach diesem Buch zu greifen. Kurzum: Wer sich mit den Folgen von Krieg und Terror beschäftigen, gemeinsam ins Gespräch kommen und doch nach Lösungen Ausschau halten möchte, dem sei das Buch wärmstens empfohlen.

Ein wundbares Bilderbuch zum Thema Krieg, für Klein und Groß ab 5 Jahren. 

Signatur: Jm 1
Schlagworte: Krieg | Terror | Mut | Hoffnung
Bewertung: +++
Rez.: Oliver Georg Hartmann

Elzbieta: Floris & Maja. Dt. von Barbara Haupt. Neuausg. Frankfurt am Main: Moritz 2022. 36 S. : überw. Ill. ; 22 cm. ISBN 978-3-89565-436-7, geb.: 12,95 €

Krieg ist brutal, reißt Wunden und macht auch vor Kindern nicht halt. Ein schwieriges, aber leider aktuelles und wichtiges Thema.

Die Hasenkinder Floris und Maja sind beste Freunde. Dann reißt sie der Krieg brutal auseinander, obwohl sie nach wie vor nebeneinander wohnen: Ein Stacheldraht trennt sie. Der Krieg richtet schlimmen und auch bleibenden Schaden an. Doch Floris und Maja finden einen Weg zueinander.
Ein kleines, fast poetisches Buch, das dennoch eindringlich, klar und kraftvoll von einem schweren Thema erzählt. Die Personifizierung des Krieges macht ihn einerseits greifbarer, abstrahiert ihn andererseits in gewisser Weise. Der knappe Text und die intensiven Bilder sind ein einziges großes Angebot, sich mit - mittelbar betroffenen! - Kindern in der KiTa, Grundschule oder Familie behutsam dem Thema zu nähern. Die Kinder können dabei zum Beispiel in eigenen Bildern zum Ausdruck bringen, was sie vom Krieg gehört oder gesehen haben. Die vorsichtig hoffnungsvolle Stimmung am Ende des Büchleins sollte man unterstreichen, z.B. einen ausgerollten Draht mit Blumen und bunten Bändern zur Girlande machen. Anschließende Bewegungsspiele (Grenzen/Hindernisse überwinden, Zusammengehörigkeit) können Anspannungen lösen.

Eine gute Möglichkeit, mit Kindern in den Dialog über dieses aufwühlende Thema zu kommen. Die Kinderfragen bitte nicht scheuen! Ein wichtiges Buch. (Neuauflage)

Signatur: Jm 1
Schlagworte: Krieg / trennende Grenze
Bewertung: +++
Rez.: Katja Henkel

Die Geschichte von Elenis Konfetti. Refugees Welcome. Jonas u. Daniela Leidig. Zürich: minedition 2021. O. Pag. : überw. Ill. ; 25 cm. ISBN 978-3-03934-017-0, geb.: 18,00 €

Ein kleines Mädchen stellt Fragen über Geflüchtete und findet, dass man ihnen helfen muss.

Eleni lebt auf einem Hügel irgendwo in Griechenland. Sie wundert sich über die vielen Zelte, die unten am Fuß des Hügels aufgebaut wurden, obwohl es so viel geregnet hat. Ihre Oma erklärt ihr, dass dort Geflüchtete wohnen würden. Menschen, die vor dem Krieg geflohen seien, denn niemand könne sich aussuchen, wo er geboren wird. Eleni möchte helfen. Zusammen mit ihrer Oma bringt sie den Menschen Blumen und Marmelade. Doch als sie deren Armut sieht, will sie mehr tun – gemeinsam mit anderen …
Die wunderbare kleine Geschichte um Flucht und Nächstenliebe basiert auf den Ideen des vierjährigen Jonas, der sich Gedanken darüber gemacht hat, wie man spontan Notleidenden helfen kann. Neben den in Pastellfarben gehaltenen zarten Bildern sind auch Strichzeichnungen von ihm zu sehen, die gut als Gesprächsanreiz genutzt werden können. Auch vor dem Hintergrund der allgegenwärtigen Flüchtlingsthematik ist dieses Buch lesenswert und wichtig. 

Ein schönes Buch, in dem der unbefangene kindliche Drang, helfen zu wollen, liebevoll aufgezeigt wird. Zugleich erinnert es uns daran, dass wir alle etwas tun können! Ab 3 Jahren.

Signatur: Jm 1
Schlagworte: Flucht | Nächstenliebe | Not | Krieg
Bewertung: +++
Rez.: Juliane Deinert

Josephs große Fahrt. Terry Farish. Ill. von Ken Daley. Dt. von Penelope Dützmann. Berlin: Orlanda Verl. 2021. O. Pag. : überw. Ill. ; 23 cm. (reihe kids bewegt). Aus d. Engl. ISBN 978-3-944666-83-9, geb.: 16,00 €

Joseph muss aus Afrika flüchten und findet in seiner neuen Umgebung in Amerika eine Freundin, die ein Fahrrad besitzt.


Wie erlebt der kleine Joseph seinen Aufenthalt in einem Geflüchtetencamp im Norden von Kenia und später als Einwanderer in Nordamerika? Er träumt von einem Fahrrad! Tatsächlich gelingt es ihm, in Afrika Kenntnisse über Rad-Reparaturen zu erwerben, die ihm dann in Amerika dazu verhelfen, eine intensive Freundschaft zu „Whoosh“ anzubahnen. Dieses Mädchen mit dem herrlichen Lockenkopf besitzt ein kleines rotes Fahrrad, geht in seine Klasse und wohnt im selben Haus. - Das äußerst farbintensiv und schwungvoll illustrierte Buch entstammt der idealen Zusammenarbeit des Afrokanadiers Ken Daley (Musiker und darstellender Künstler) und der amerikanischen Autorin und Dozentin Terry Farish, die mit großer Empathie Bücher u. a. für Kinder und Jugendliche zum Thema „Neubeginn nach Krieg und Flucht“  verfasst. Sie greift dabei auf ihre vielseitigen Erfahrungen als Helferin des Roten Kreuzes in afrikanischen und asiatischen Flüchtlingscamps und Aktivitäten in US-Alphabetisierungsprogrammen zurück.

Ein eindrucksvolles Bilderbuch für Vor- und Grundschulkinder, das von der Freundschaft zwischen einem einheimischen und einem gerade eingewanderten Kind erzählt.

Signatur: Jm 1
Schlagworte: Interkulturalität | Flucht | Freundschaft | Neuanfang
Bewertung: +++
Rez.: Margot Rickers

Naylor-Ballesteros, Chris: Der Koffer. Dt. von Uwe-Michael Gutzschhahn. Frankfurt am Main: Sauerländer 2020. O. Pag. : überw. Ill. ; 28 cm. Aus d. Engl. ISBN 978-3-7373-5704-3, geb.: 14,99 €

Eine Geschichte die auf liebevolle Art und Weise klar macht, was Toleranz bedeutet.

Zugegeben: Nach dem ersten Lesen war ich etwas ratlos. Obwohl die Geschichte mit klaren Worten erzählt wird, habe ich etwas gebraucht, um zu bemerken, was sich zwischen den drei Tieren und dem fremden Wesen abspielt, das mit seinem Koffer daherkommt. Natürlich fragen die Tiere sofort, was sich in dem Koffer befindet und erfahren von einer Tasse. Und außerdem von einem Tisch, einem Stuhl und einer Berghütte. Der Fremde bezeichnet all das, als sein Zuhause. Und als die Tiere sehen, dass er sich ein wenig schlafen gelegt hat, packen sie die Gelegenheit beim Schopf und öffnen den Koffer. Zum Vorschein kommt eine Tasse, die bei dieser Aktion zerbricht und ein Sepia-Foto mit besagtem Zuhause. Als das fremde Tier erwacht, kann es nicht glauben, was die Tiere getan hatten. Doch mit entwaffnender Ehrlichkeit beichten die Drei, dass die Tasse kaputt ist und präsentieren die Hütte, die sie gebaut haben, damit der Fremde bleibt.

Ein Buch mit eindrucksvollen Zeichnungen. Für alle, die Lust auf eine ehrliche Geschichte über Toleranz und Freundschaft haben. Aktion: Den fast leeren Koffer packen mit dem Spiel „Ich packe meinen Koffer“. Was würden die Kinder selbst von zu Hause mitnehmen wollen, was braucht man, wenn man sich auf den Weg macht ...?

Signatur: Jm 1
Schlagworte: Toleranz | Offenheit | Flucht | Menschlichkeit
Bewertung: +++
Rez.: Andrea Schmidt

Popov, Nikolai: Warum? 2. Aufl. Zürich: minedition 2022. O. Pag. : überw. Ill. ; 24 cm. ISBN 978-3-86566-341-2, geb.: 10,00 €

Ein Bilderbuch, das von der Sinnlosigkeit und Brutalität des Krieges erzählt.

Ein Frosch hockt zufrieden mit einer Blume auf einem Stein. Da taucht aus der Erde eine Maus auf mit einem Sonnenschirm. Die Maus sieht die Blume, will sie haben und entreißt sie dem Frosch. Daraufhin verjagen die Freunde des Frosches die Maus, die nun wiederum mit ihren Freunden in einem Panzer anrollt. Die Eskalation geht weiter, Frösche und Mäuse bekriegen sich gegenseitig. Am Ende bleibt eine verwüstete Landschaft zurück. Die Maus sitzt mit geknickter Blume und der Frosch mit zerfetztem Sonnenschirm mittendrin.
Mit großformatigen, doppelseitigen und eindrucksvollen Bildern und wenigen Worten versteht es dieser Bilderbuchklassiker des russischen Kinderbuchautors, von der Sinnlosigkeit und Banalität eines Krieges zu erzählen. Die Bilder zeigen die niedlichen Tiere mit ihren archaisch anmutenden Waffen und ermöglichen so auch Kindern einen Zugang zum Bedrohlichen und Zerstörerischen des Krieges. Ein Buch von erschreckender Aktualität.

Hervorragend geeignet, um mit Kindern über die Sinnlosigkeit von Krieg und über Möglichkeiten gewaltfreier Konfliktlösung ins Gespräch zu kommen. Ab 5 Jahren.

Signatur: Jm 1
Schlagworte: Konflikte | Frieden | Krieg | Konfliktlösung
Bewertung: +++
Rez.: Christopher Krieghoff

Fombelle, Timothée de: Rosalie - Als mein Vater im Krieg war. Ill. von Isabelle Arsenault. Dt. von Tobias Scheffel u. Sabine Grebing. Hildesheim: Gerstenberg 2020. 61 S. : Ill. ; 21 cm. Aus d. Franz. ISBN 978-3-8369-6040-3, geb.: 15,00 €

Ein kleines Mädchen erlebt den Ersten Weltkrieg in Frankreich.

Bis heute ist der Erste Weltkrieg für die Franzosen „la grande guerre“. Rosalies Vater kämpft an der Westfront, ihre Mutter arbeitet in der Fabrik, Rosalie selbst verbringt den Tag in einem Klassenzimmer, obwohl sie noch nicht im Schulalter ist. Abends liest ihr die Mutter die heiter klingenden Briefe des Vaters vor. Rosalie fühlt sich wie „ein Soldat“ in geheimer Mission. Was sie damit meint, bleibt lange ein Geheimnis, bis wir erfahren, dass sie das Lesen  erlernt hat, um die Briefe ihres Vaters selbst entziffern zu können. Dabei erfährt sie die wahre Grausamkeit des Krieges und die Verzweiflung des Vaters, der - wie der letzte amtliche Brief verrät – längst  auf dem „Felde der Ehre“ gefallen ist. Aus einer falschen Rücksicht heraus hatte die Mutter das Kind verschont, aber Rosalie hatte die Unglaubwürdigkeit gespürt.  So enthält diese kleine,  ansprechend und zart illustrierte Geschichte auch eine Erzählung über Wahrheit und Lüge und die Verzweiflung, die letztere verursacht.

Als ernsthafte, aber zumutbare Lektüre bereits für Kinder im Vorlesealter geeignet; ist Rosalie doch eine unbeirrbare Kämpferin für Offenheit  und Ehrlichkeit!

Signatur: Ju 1
Schlagworte: Erster Weltkrieg | Krieg | Tod | Ehrlichkeit
Bewertung: +++
Rez.: Barbara von Korff-Schmising

Mit einem Koffer voller Bücher. Muzoon Almellehan. In Zusammenarbeit mit Ann Lecker. Ill. von Friederike Ablang. Hamburg: Oetinger 2021. 59 S. : überw. Ill. ; 22 cm. ISBN 978-3-7512-0101-8, geb.: 10,00 €

Erzählung für Erstleser von einer Flucht aus Syrien und der Bedeutung von Büchern.


Muzoons Leben in Syrien ist schön und mit ihren Freunden und ihrer Familie erlebt sie viele schöne Momente: Gemeinsam fahren sie Fahrrad um die Wette, spielen Fußball und feiern Feste. Doch dann kommt der Krieg und Muzoons Familie muss fliehen. Nur das Wichtigste darf eingepackt und mitgenommen werden. Muzoon packt ihre Schulbücher ein, denn für sie ist Bildung das Allerwichtigste. Die Flucht ist lang und sehr mühsam, aber Muzoon gibt nicht auf.
Die UNICEF-Botschafterin Muzoon Almellehan berichtet kindgerecht von ihrer Heimat Syrien, dem ausbrechenden Krieg, der Flucht mit ihrer Familie in ein Flüchtlingslager, dem Unterricht im Wohnwagen und dem Neuanfang in England. Heute lebt und studiert sie in England und setzt sich für das Recht auf Bildung für alle Kinder ein.
Dieses Erstlesebuch erzählt eine wahre Geschichte und begegnet den Kindern auf Augenhöhe. Sehr große Fibelschrift, einfache Wörter und kurze Sätze zusammen mit einem hohen Bildanteil hilft Leseanfängern.

Ein sehr ansprechendes, positives und augenöffnendes Erstlesebuch für Kinder ab 6 Jahren mit 16 Seiten thematisch gut aufbereiteten Leserätseln und Lesespielen.

Signatur: Ju 1
Schlagworte: Erstleser | Bücherliebe | Krieg | Flucht
Bewertung: +++
Rez.: Anne Tebben

Franz, Cornelia: Calypsos Irrfahrt. Hamburg: Carlsen 2021. 141 S. ; 21 cm. ISBN 978-3-551-55519-9, geb.: 12,00 €

Auf ihrer Segeltour im Mittelmeer nehmen Oscar und seine Eltern zwei geflüchtete Kinder an Bord.

Der 10jährige Oscar ist mit seinen Eltern und Hund Lucy auf Segeltour. Vor Kreta geschieht etwas, das alle Beteiligten aufs Äußerste herausfordert: Zwei Kinder treiben hilflos im Wasser und werden an Bord genommen. Es sind Nala und ihr kleiner Bruder Moh - nach und nach stellt sich heraus, dass sie aus dem Kongo stammen und elternlos sind. An keinem Hafen zeigt sich irgendjemand willens, zwei unbegleitete minderjährige Flüchtlinge von Bord zu lassen - und gleichzeitig wachsen beim gemeinsamen Unterwegssein auch in schwerer See Vertrautheit miteinander und Verantwortungsgefühl füreinander. Am Ende ist Oscar fest entschlossen, die Heimreise keinesfalls ohne Nala und Moh anzutreten - und auf abenteuerliche Weise gelingt das am Ende. Erzählt wird aus Oscars Sicht - auch davon, wie seine Eltern sich der Herausforderung stellen-, Nala und Moh hört man in kursiv eingestreuten Unterhaltungen miteinander reden. Das alles wird nicht belehrend, sondern spannend und zugleich sehr einfühlsam erzählt.

Für Kinder ab 10, gut möglich auch als Klassenlektüre.

Signatur: Ju 2
Schlagworte: Flucht | Zivilcourage
Bewertung: +++
Rez.: Griet Petersen

Michaelis, Antonia: Manchmal muss man Pferde stehlen. Ill. von Simona M. Ceccarelli. Hamburg: Oetinger 2022. 284 S. : Ill. ; 22 cm. ISBN 978-3-7512-0028-8, geb.: 15,00 €

Ausgerechnet die stille Anna und der aggressive Flüchtlingsjunge Tariq erleben zusammen ein spannendes und gefährliches Abenteuer.


Zufällig treffen Anna und Tariq an der Waldwiese bei den beiden Arbeitspferden aufeinander. Anna spricht eigentlich nicht mit Fremden. Tariq, der in einem Heim lebt, fürchtet, dass sein älterer Bruder Jamal wieder zurückgeschickt wird nach Afghanistan und in die Hände der Taliban fällt. Er träumt davon, auf dem Rücken eines Pferdes mit dem Bruder in die Freiheit zu reiten. Zwischen den scheinbar so unterschiedlichen Kindern und den Pferden entwickelt sich ein besonderes Verstehen, das alle Sprachbarrieren überwindet. Nun begleitet Anna Tariq auf der Suche nach Jamal. Gemeinsam trotzen sie mit den Pferden Gefahren wie Gewittern und Flussüberquerungen. Die entstehende Freundschaft und gegenseitige Hilfe und die fast magische Verbindung zwischen den Protagonisten, Kindern und Pferden, lässt die Ängste zurückweichen.
Den Hintergrund der sehr spannenden Reise bildet die Verarbeitung des Todes eines Elternteils sowie die beängstigende Situation in Afghanistan unter Herrschaft der Taliban. Das ist viel Stoff, der aber nicht auserzählt wird, sondern in den Ängsten der Kinder sichtbar wird.

Die Geschichte mit magischen Elementen kann als spannendes Pferdeabenteuer gelesen werden, enthält aber eine unterliegende Problemebene, die auch Gesprächsanlässe bietet. Ab 10 J.

Signatur: Ju 2
Schlagworte: Freundschaft | Ängste | Pferde | Flucht
Bewertung: +++
Rez.: Birgit Schönfeld

Raúf, Onjali Q.: Der Junge aus der letzten Reihe. Dt. von Katharina Naumann. Dt. von Pippa Curnick. Zürich: Atrium 2020. 286 S. : Ill. ; 22 cm. Aus d. Engl. ISBN 978-3-85535-630-0, geb.: 15,00 €

Kinder-/Jugendbuch über ein unbegleitetes Flüchtlingskind.

Ahmet ist neu in der Klasse, spricht kaum und ist irgendwie anders. Alexa möchte mit ihm befreundet sein -  sie und ihre Klasse erfahren, dass Ahmet und seine Familie aus dem umkämpften Syrien flüchten mussten, seine Schwester unterwegs gestorben ist, er von seinen Eltern getrennt wurde und allein nach England gekommen ist. Alexa entwickelt einen waghalsigen Plan, damit Ahmet seine Eltern wiederfindet und sie einreisen können.
Die engagierte Autorin will mit Kindern über das große Thema Flucht und die Situation Geflüchteter ins Gespräch kommen. Dafür wählt sie auf sehr feine und zugleich weitsichtige, klug beobachtende sowie einfühlende Weise die Ich-Perspektive Alexas, die nach und nach Ahmets Geschichte erfährt ebenso wie Ablehnung und Argwohn gegenüber Geflüchteten und auf ihre Art, die vordergründig naiv erscheinen mag, beherzt handelt und nach einer Lösung sucht.   

Sehr geeignet, um Kindern die Thematik von Flucht und Migration nahe zu bringen und mit ihnen über Handlungsoptionen nachzudenken und zu diskutieren. Höchst empfehlenswert für alle Büchereien!

Signatur: Ju 2 | Ju 3
Schlagworte: Geflüchtete | Flucht | Syrienkrieg | Multikulturalität
Bewertung: +++
Rez.: Anne Rank

Vereecken, Kathleen: Alles wird gut, immer. Ill. von Julie Völk. Dt. von Meike Blatnik. Hildesheim: Gerstenberg 2021. 131 S. : Ill. ; 19 cm. Aus d. Niederländ. ISBN 978-3-8369-6061-8, geb.: 14,00 €

Ein junges Mädchen erlebt in Belgien die Schrecken des Ersten Weltkriegs und bewahrt sich Hoffnung und Zuversicht.

Plötzlich ist das Wort „Krieg“ da, das die Eltern von Alice leise aussprechen, wenn sie ungestört zu sein glauben. Als der Krieg kurz darauf tatsächlich ausbricht, versucht sich die siebenköpfige Familie an den Leitspruch zu halten: „Alles wird gut!“ Doch ihre Zuversicht wird auf eine harte Probe gestellt. Bald ziehen Flüchtlinge durch die Stadt, ihnen folgen plündernde deutsche Soldaten. Alice erlebt, was Hunger, Angst und Verlust bedeuten. Sie verliert ihre Mutter und ihre ältere Schwester und muss schließlich zusammen mit ihren zwei jüngeren Geschwistern nach Frankreich fliehen. Mit rührendem, zuweilen trotzigem Optimismus kämpft sie sich durch alle Erschütterungen und Nöte.
Auf eine überaus sensible und zugleich unaufgeregte Art werden die Härten des Krieges aus der Sicht eines zwölfjährigen Mädchens dargestellt. Der Erzählstil der Autorin wirkt dabei immer leicht und distanziert, was die Geschichte für Kinder gut aushaltbar macht. Mit zurückhaltenden, feinen Illustrationen. 

Ein großartiges, wichtiges Buch über Hoffnung und Zusammenhalt in Zeiten des Krieges. Auch gut übertragbar auf die heutige Zeit. Absolut empfehlenswert ab 10 Jahren.

Signatur: Ju 2
Schlagworte: Krieg | Familie | Zusammenhalt | Hoffnung
Bewertung: +++
Rez.: Juliane Deinert

Wenn Sterne verstreut sind. Victoria Jamieson u. Omar Mohamed. Farbgestaltung von Iman Geddy. Dt. von Julia Augustin. Berlin: Adrian Verl. 2022. 256 S. : überw. Ill. ; 21 cm. Aus d. Amerikan. ISBN 978-3-985850-50-1, kt.: 9,95 €

Einfühlsame und fesselnde Graphic Novel über geflüchtete Kinder in Kenia.

Diese Graphic Novel im A5 Buchformat beschreibt auf 250 Seiten das Leben von zwei geflüchteten somalischen Jungen in einem Flüchtlingslager in Kenia. Das Buch ist dabei im klassischen amerikanischen Comicstil gehalten mit vielen bunten Panels auf jeder Seite. Erzählt wird die Geschichte der Hauptfigur Omar, der zusammen mit seinem kleinen gehandicapten Bruder Hassan allein ohne Eltern in einem kenianischen Flüchtlingslager untergekommen ist. Die beiden leben schon seit sieben Jahren in diesem Lager und haben sich mit dem Alltag dort abgefunden. Es wird hierbei wunderbar einfühlsam der Alltag in solch einem Lager beschrieben. So entstehen auch hier Freundschaften und zwischenmenschliche Beziehungen. Es gibt aber auch Gefahren und natürlich jede Menge Probleme. So gibt es zum Beispiel nicht immer genug zu essen und um den Zugang zur Schule muss gekämpft werden. Die Schule und die engagierten Lehrer, die selbst Geflüchtete sind, sind auch der mögliche Ausweg für Omar aus dem Lager. Denn nur die besten Schüler:innen dürfen auf ein Stipendium in den USA hoffen.

Diese sehr einfühlsam und niederschwellig geschriebene Graphic Novel eignet sich hervorragend für Kinder und Jugendliche zum Einstieg in das Thema Flucht.
Signatur: Ju 2 | Ju 3
Schlagworte: Flüchtlingslager | Flucht | Afrika | Kinder
Bewertung: +++
Rez.: Christian Prange

Wir Kinder aus dem (Flüchtlings)Heim. Deutsch - Tigrinya. Cool kids u. Hoa Mai Trần. Ill. von Michaela Schultz. Übersetzung Samson Solomon. Berlin: Viel & Mehr 2020. 125 S. : überw. Ill. ; 23 cm. ISBN 978-3-945596-15-9, kt.: 7,00 €

Fünf Alltagsgeschichten von Kindern, die in Not- und Gemeinschaftsunterkünften leben.

Man sieht sie sofort vor sich, Aida und Ahmed, Narven und Yusuf und alle, die hier aus ihrer Perspektive von ihrem Alltag erzählen; ihr Tonfall ist genau getroffen - kein Wunder, denn das Buch wurde mit ihnen zusammen erarbeitet. Da geht ein kleiner Bruder ausgerechnet am Zuckerfest verloren und ein geheimer Garten wird entdeckt; Securitys, Betreuer und das Essen können manchmal eine Plage sein, aber die Kinder finden Plätze zum Spielen und Verstecken, schließen Freundschaften, sprühen vor Lebendigkeit, nur nachts kommen schlimme Träume. Denn alle leben ja mit der Angst vor Abschiebung. Das Buch gibt ihnen am Ende den Raum, ihre Wünsche zu äußern: ein echtes Zuhause, ein Schlüssel für mein Zimmer, Frieden für Afrin ... Der Text des Buches ist in Deutsch und Tigrinya zu lesen, das Buch ist auch mit Farsi, Englisch, Arabisch und Kurmancî als zweiter Sprache neben Deutsch erhältlich. Die poppig-bunten Illustrationen im Stil von Graphic Novels machen Gefühle, Stimmungen, Räume höchst lebendig.

Deutschklassen, Kinder-/Jugendhäuser, Gemeinschaftsunterkünfte; und eine entschiedene Leseempfehlung an alle, die über Asylsuchende oder in Asylverfahren entscheiden.

Signatur: Ju 2 | Ju 1
Schlagworte: Flucht | Asyl
Bewertung: +++
Rez.: Griet Petersen

Katouh, Zoulfa: All die Farben, die ich dir versprach. Dt. von Rasha Khayat. Hamburg: Dressler 2022. 399 S. ; 22 cm. Aus d. Engl. ISBN 978-3-7513-0047-6, geb.: 22,00 €

Bleiben und helfen oder fliehen, um die Familie zu retten? Vor dieser Entscheidung steht eine junge Frau während der Revolutionskämpfe in Syrien.

Wie viel Leid kann ein Mensch ertragen? Inmitten der syrischen Revolution in Homs wird Salama immer wieder vor diese Frage gestellt. Die junge Frau hilft mit allen Kräften in einem Krankenhaus. Khwarf – Angst – nennt sich Salamas ständiger imaginärer Begleiter. Der Verlust fast der gesamten Familie und das Grauen des Krieges prägen ihren Alltag.
Das gilt auch für Kenan, den sie kennen- und lieben lernt. Von all den Farben, die sich die beiden jungen Menschen für die Zukunft erträumen, bleibt in Homs fast nur blutrot. Kenan will trotzdem bleiben, um zu dokumentieren und der Welt das Leid in Syrien zu zeigen. Salama hingegen will die hochschwangere Layla – ihre letzte Angehörige – retten und das Land verlassen. Beide müssen eine schwere Entscheidung treffen.
Nicht umsonst ist dem Buch eine Triggerwarnung vorangestellt – unvorstellbare Gräueltaten bringen Salama an die Belastungsgrenze. Oder über sie hinaus – wie sehr, das wird erst spät deutlich, als auch Salamas letzte vermeintliche Sicherheit in sich zusammenbricht.

Ein wichtiges Buch, das jedoch zum Lesen in einer Gruppe nicht empfohlen werden kann. Wer es sich aber zutraut, für den ist es ein erschütterndes Zeugnis vom furchtbaren Unrecht, das seit 2011 in Syrien geschieht. (ab 16).

Signatur: Ju 3
Schlagworte: Syrische Revolution | Krieg | Traumatisierung | Flucht
Bewertung: +++
Rez.: Katrin Hedke

Wo ist Anne Frank? Graphic Novel. Ari Folman. Ill. von Lena Guberman. Dt. von Klaus Timmermann u. Ulrike Wasel. Frankfurt am Main: S. Fischer 2022. 151 S. : überw. Ill. ; 25 cm. Aus d. Engl. ISBN 978-3-10-000079-8, geb.: 22,00 €

Die Fantasiefreundin aus dem „Tagebuch der Anne Frank“ erwacht zum Leben, trifft Kriegsflüchtlinge und hilft ihnen.

Die beiden israelischen Künstler haben das weltberühmte „Tagebuch der Anne Frank“ überzeugend aktualisiert. Anne Franks Fantasiefreundin Kitty erwacht zum Leben und entführt das Original-Tagebuch aus dem Amsterdamer Anne Frank Haus. Sie begegnet einem jungen Kriegsflüchtling, der sich in sie verliebt. Gemeinsam verhindern sie die Abschiebung mehrerer Familien.
Die expressiven farbigen Figuren agieren oft vor einem düsteren Hintergrund. Sie knüpfen an die Sehgewohnheiten heutiger Jugendlicher an und erinnern z. T. an Manga-Figuren. Inhaltlich gibt es viele Bezüge zum Tagebuch, etwa indem das Leben von Anne und ihrer Familie erzählt wird, wobei auf das traurige Ende ausführlich eingegangen wird. Der aktuelle Bezug auf Geflüchtete überzeugt und bringt das Original in die Gegenwart.

Die gelungene Graphic Novel sollte bei Jugendlichen gut ankommen und weckt Interesse am Original. Geeignet auch für kleinere Büchereien.

Signatur: Ju 3
Schlagworte: Anne Frank | Nationalsozialismus | Flucht | Graphic Novel
Bewertung: +++
Rez.: Peter Bräunlein

Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin. 15 wahre Geschichten gegen Krieg, Gewalt und Machtmissbrauch. Heather Camlot. Ill. von Serge Bloch. Dt. von Fabienne Pfeiffer. Mit einem Vorwort von Cornelia Funke. Hamburg: Dressler 2020. 41 S. : überw. Ill. ; 25 cm. Aus d. Engl. ISBN 978-3-7915-0170-3, geb.: 14,00 €

15 Geschichten von Menschen, die sich gegen Krieg und Gewalt gestellt und damit vielen Menschen das Leben gerettet haben.

Diese mit dem bekannten Anti-Kriegszitat von Carl Sandburg titulierte Sammlung enthält Porträts von 15, zumeist unbekannten Menschen, die sich in Kriegssituationen für andere Menschen eingesetzt haben.  Zu diesen Menschen zählt der amerikanische Soldat Desmond Doss, der 1945 bei einer Schlacht mit den Japanern verletzten Soldaten das Leben gerettet hat. Ein anderes Beispiel ist der Fußballstar Didier Drogba, der sich für die Versöhnung verfeindeter Bevölkerungsgruppen in seinem Land, der Elfenbeinküste, eingesetzt hat. Wer weiß, dass sich 1971 die Beziehungen zwischen Amerika und China wieder normalisiert haben, nachdem die Tischtennisteams beider Länder aufeinander zugegangen sind? Vorgestellt wird auch die Autorenvereinigung P.E.N., die sich für verfolgte Schriftsteller und Journalisten engagiert.  Die einzelnen Porträts werden jeweils auf einer Doppelseite mit karikatur- und skizzenhaft gestalteten künstlerischen Zeichnungen, vorwiegend in Rot-, Grün- und Brauntönen, illustriert.

Die Sammlung kann in Gemeindegruppen viele Denkanstöße bieten und zu eigenem Engagement ermutigen. In einer Bücherei müsste der schmale Band extra beworben werden. Für Jugendliche und Erwachsene.

Signatur: Jb | B
Schlagworte: Krieg | Gewalt | Frieden < Versöhnung
Bewertung: +++
Rez.: Anke Märk-Bürmann

Wolffsohn, Michael: Wir waren Glückskinder - trotz allem. Eine deutschjüdische Familiengeschichte. München: Dt. Taschenbuch Verl. 2021. 230 S. : Ill. ; 22 cm. ISBN 978-3-423-76331-8, geb.: 14,95 €

Thea Saalheimer und Max Wolffsohn gelingt mit ihren Familien die Flucht aus Nazi-Deutschland nach Britisch-Palästina.

Angeregt durch seinen Enkel Noah, der „mehr über Juden und Hitler wissen" wollte, erzählt Michael Wolffsohn (1947 in Tel Aviv geboren) für Jugendliche die Geschichte seiner deutsch-jüdischen Familie, die vor den Nazis nach Britisch-Palästina fliehen konnte, und damit, anders als sechs Millionen Juden, „Glück im Unglück" hatte. Thea und Max Wolffsohn kehrten später mit Sohn Michael ins Nachkriegsdeutschland zurück. Er schildert ihr Leben und seine Kindheit, spannend, berührend, auch komisch und in einer für Jugendliche leicht verständlichen Form, die manchmal allerdings etwas anbiedernd wirkt. Er spricht die Leser*innen direkt an, erklärt auch komplexe Sachverhalte verständlich, ohne Vorwissen vorauszusetzen, warnt vor Verallgemeinerungen („die Deutschen“ oder „die Juden“) und zieht immer wieder Parallelen zur aktuellen Lage in Israel und Deutschland. Der Titel ist quasi die Jugendbuchversion seines Buchs „Deutsch-jüdische Glückskinder" (2017).

Das Buch, das ein wichtiges Thema in verständlicher Form behandelt, wird für Jugendliche ab 12 Jahren empfohlen, sollte breit angeboten werden, und eignet sich auch für die Veranstaltungsarbeit.

Signatur: Jb | Gg
Schlagworte: Judenverfolgung | Geschichte < Flucht
Bewertung: +++
Rez.: Wolfgang Vetter

Wie ist es, wenn es Krieg gibt? Alles über Konflikte. Louise Spilsbury. Ill. von Hanane Kai. Dt. von Jonas Bedford-Strohm. Stuttgart: Gabriel 2019. 32 S. : überw. Ill. ; 23 cm. Aus d. Engl. ISBN 978-3-522-30534-1, geb.: 10,00 €

Ein Sachbilderbuch zu den Ursachen von gewaltsamen Konflikten und über Möglichkeiten, sich für den Frieden einzusetzen.

In ihrer Bilderbuchreihe „Wie ist es, wenn ...?", in der sie bereits die Themen Ungerechtigkeit, Armut und Flucht und Migration behandelt hat, widmet sich die englische Autorin Louise Spilsbury nun dem Thema Krieg und globale Konflikte. In dreizehn Kapiteln, die jeweils aus einer in dezenten Farben illustrierten Doppelseite und einem gut verständlichen Text bestehen, werden zunächst Ursachen von Streit, Konflikten, Krieg und Terrorismus erläutert und deren Auswirkungen auf das Leben von Mensch und Mitwelt dargestellt. Spilsbury erläutert die Notwendigkeit verbindlicher Regeln, von Respekt und Kompromissbereitschaft, erzählt von einzelnen Menschen und Organisationen, die sich bemühen, Konflikte zu begrenzen oder zu lösen, um dann in den letzten Kapiteln aufzuzeigen, wie Kinder mit ihren eventuellen Ohnmachtsgefühlen angesichts globaler Konflikte umgehen („Sprich darüber!") und selbst aktiv werden können. Ein Verzeichnis wichtiger Informationsquellen und ein Glossar runden den Band ab.

Ein einfühlsam gestaltetes Bilderbuch zu einem schwierigen Thema, das in keiner Schulbibliothek fehlen sollte. Ab 6 J. 

Signatur: Js
Schlagworte: Krieg | Konflikte | Konfliktursachen | Terrorismus
Bewertung: +++
Rez.: Erhard Reschke

Appelfeld, Aharon: Sommernächte. Roman. Dt. von Gundula Schiffer. Berlin: Rowohlt Berlin 2022. 221 S. ; 21 cm. Aus d. Hebr. ISBN 978-3-7371-0124-0, geb.: 22,00 €

Wie überlebt man den Krieg? Indem man stets in Bewegung ist und keine Angst hat.

Ein besorgter jüdischer Vater übergibt seinen Sohn in die Obhut eines blinden Landstreichers, um ihm im 2. Weltkrieg eine Chance des Überlebens zu ermöglichen. Der Landstreicher ist ein ehemaliger hochdekorierter Soldat, der sich des Jungen annimmt und diesen für das Leben auf der Straße ausbildet. Die beiden bewältigen den Alltag gemeinsam und werden ein ungemein eingespieltes Team, das sich mit den Problemen des täglichen Lebens auseinandersetzt. So der Plot.
Es wäre aber kein Buch von Appelfeld, wenn es nicht zugleich eine Allegorie für das ewige Judentum wäre. Ein Volk, das immer auf der Wanderschaft, immer wehrhaft und zugleich bedroht ist. Ein Volk, das stets auch zwischen den anderen Völkern lebt. Das ist der subtile Stil des Autors.
Ein bestechend intensives Buch, das zeigt, wie gewalttätig Krieg ist. Während die einen mit Waffen kämpfen, ringen die anderen um das Überleben und versuchen Hunger und Bedrohung zu bewältigen.

Bitte unbedingt anschaffen!

Signatur: SL
Schlagworte: Krieg | Judentum
Bewertung: +++
Rez.: Dirk Purz

Bittner, Wolfgang: Die Heimat, der Krieg und der Goldene Westen. Ein deutsches Lebensbild. Roman. Höhr-Grenzhausen: Zeitgeist 2019. 351 S. ; 22 cm. ISBN 978-3-943007-21-3, geb.: 21,90 €

Die Historie einer Familie in Schlesien am Ende des 2. Weltkrieges, bei Flucht und Vertreibung und während des Neuanfangs in Niedersachsen bis in die fünfziger Jahre.

Es lohnt sich, sicher nicht nur für Erwachsene, dieses Buch von Wolfgang Bittner zu lesen. Beschreibt er doch aus der Sicht des Jungen der Familie sehr eindrucksvoll und unprätentiös das Leben von Vater, Mutter und Sohn im Kreise der Großfamilie in anfangs ruhigen Kriegszeiten im schlesischen Gleiwitz, dann im Bombenhagel, Verlust der Heimat, Flucht in den Westen und dem mühseligen Neuanfang dort. Es gelingt dem Verfasser so, fast alle Probleme dieser Lebensreise zu benennen. Ein Geschichtsbuch “von unten“: Es handelt von der Judenverfolgung im 3. Reich, der gesamten politischen Situation, den Kriegserfahrungen von Männern und Frauen, den familiären Erfahrungen mit Verlust und Tod der Angehörigen, bis zu den Gewalttaten bei der Übernahme Schlesiens und nicht zuletzt von den Erfahrungen des Neuanfangs im Westen Deutschlands mit vielfacher Ablehnung und Misstrauen. Dieses Werk führt ohne Übernahme von Wertungen und Ressentiments in unsere Zeit in diesem Land ein und benennt fast alles außerordentlich kenntnisreich.

Unsere Büchereien sollten vielen Menschen die Möglichkeit geben, dieses Buch zu lesen und zu diskutieren.

Signatur: SL
Schlagworte: Schlesien | Familie | Krieg | Nachkriegszeit
Bewertung: +++
Rez.: Kurt Triebel

Hale, Katie: Mein Name ist Monster. Roman. Dt. von Eva Kemper. Frankfurt am Main: S. Fischer 2020. 379 S. ; 21 cm. Aus d. Engl. ISBN 978-3-10-397469-0, geb.: 22,00 €

Eine junge Frau und ein kleines Kind überleben als einzige Menschen einen Weltkrieg und schaffen neues Leben.

Monster, so nennt sich die störrische junge Frau, die während eines grausamen Kriegs in einem Saatguttresor im arktischen Spitzbergen ausharrte. In der Annahme, der einzige überlebende Mensch zu sein, macht sie sich nach Kriegsende mit einem kleinen Boot auf die Reise in Richtung Süden und landet an der schottischen Küste. Halb verdurstet und verhungert gelangt sie eines Tages auf einen abgelegenen Hof, der von da an ihr neues Zuhause wird. Nach einiger Zeit trifft sie auf einem ihrer Streifzüge in die entlegenen, verlassenen Städte auf ein kleines, verwildertes Mädchen. Völlig überwältigt von einem weiteren menschlichen Leben, sind die beiden nach kurzer Zeit unzertrennbar und stark abhängig voneinander. Als das kleine Mädchen dann irgendwann in die Pubertät kommt, machen sich immer mehr Differenzen zwischen den beiden Frauen auf und eine Sehnsucht des Aufbruchs kommt immer wieder hoch. Doch welche Alternativen gibt es, wenn man vermeintlich alleine auf der Welt ist?

Ein fesselnder Roman, der die Leser*innen in seinen Bann zieht. Geeignet für Jugendliche und Erwachsene!

Signatur: SL
Schlagworte: Einsamkeit | Überleben | Krieg | Mutterschaft
Bewertung: +++
Rez.: Rosa Bömelburg

Hanif, Mohammed: Rote Vögel. Roman. Dt. von Michael Schickenberg. Hamburg: Hoffmann & Campe 2019. 317 S. ; 21 cm. Aus d. Engl. ISBN 978-3-455-00516-5, geb.: 22,00 €

Der pakistanische Autor beschreibt hier die  Nachkriegssituation in einem fiktiven Land (aktuell gemeint ist sicherlich Afghanistan).

Handlungsorte sind die Wüste, ein Flüchtlingscamp und schließlich ein Flugzeughangar der US-Army. Der US-Pilot Ellie, der mit seinem Bomber ein Camp bombardieren sollte, stürzt ab, kann sich mit dem Schleudersitz retten, und wird ausgerechnet von dem  jugendlichen Bewohner Momo des besagten Camps vor dem Verdursten in der Wüste gerettet. Die Handlung wird dem Leser abwechselnd aus drei Perspektiven, der Ellies, der Momos und der seines Hundes Mutt  vermittelt. Ellie will nach Hause, sieht alles von diesem Ziel aus. Momo versucht mit der desolaten Nachkriegssituation fertig zu werden, indem er, die Not zu Tugend machend, das Leben als „eine Geschäftsmöglichkeit“ sieht und etwa eine Firma Global Sand (!) gründen will. Er spricht sehr oft im BWL-Duktus, den er sich durch eine Zeitschrift angeeignet hat. Zudem will er seinen älteren Bruder finden, der wegen seiner technischen Kenntnisse von den Militärs angestellt wurde und im Hangar vermutet wird. Der Hund Mutt ist gleichzeitig Handelnder und erzählender Kommentator.

Mohammed Hanifs Roman entwirft ein zum Absurden tendierendes Szenario in einer von Ironie und Sarkasmus geprägten Sprache. Er wendet sich damit gegen heutige  Kriege, die kein Problem lösen und den Überlebenden als deprimierende Hinterlassenschaft jedes erdenkliche Elend  bescheren. Für politisch interessierte Leserschaft.

Signatur: SL
Schlagworte: Krieg | USA
Bewertung: ++
Rez.: Reinhold Zenke

Haratischwili, Nino: Das mangelnde Licht. Roman. Frankfurt am Main: Frankfurter Verl. - Anst. 2022. 830 S. ; 21 cm. ISBN 978-3-627-00293-0, geb.: 34,00 €

Vier Freundinnen suchen inmitten der georgischen Bürgerkriegswirren ihren Weg.

Die vier Freundinnen Keto, Dina, Nene und Ira wachsen gemeinsam in der Tifliser Altstadt auf und sind in ihrer Jugend unzertrennlich. Kaum haben sie ihren Schulabschluss, wird Georgien 1991 unabhängig und versinkt in Chaos und Bürgerkrieg. Fortan ist das Leben geprägt von Gewalt, Angst, Korruption und Drogenhandel. Nene, die einem mafiösen Clan entstammt, wird zwangsverheiratet. Rivalisierende Banden, geführt von Nenes und Ketos Brüdern, sorgen für Mord und Totschlag. Liebesbeziehungen haben keine Zukunft. Die Mädchen geraten zwischen die Fronten und werden gezwungen, folgenschwere Entscheidungen zu treffen, an denen ihre Freundschaft zerbricht. Erst 2019 begegnen sich Keto, Ira und Nene bei einer Ausstellung zu Ehren der verstorbenen Dina wieder. Die eindrücklichen Fotografien lassen ihre gemeinsame, teilweise verdrängte Vergangenheit aufleben und führen zu einer vorsichtigen Annäherung.- Die Autorin schafft es meisterhaft, die georgische Zeitgeschichte mit dem persönlichen Schicksal der Protagonistinnen zu verknüpfen und die Auswirkungen des Krieges zu verdeutlichen.

Ein grandioses, trotz seines immensen Umfangs äußert empfehlenswertes Buch. Bestens geeignet für Gemeindebüchereien.

Signatur: SL
Schlagworte: Krieg | Georgien | Freundschaft
Bewertung: +++
Rez.: Elisabeth Schmitz

Izquierdo, Andreas: Schatten der Welt. Roman. Köln: DuMont 2020. 538 S. ; 22 cm. ISBN 978-3-8321-6498-0, kt.: 16,00 €

Die Geschichte dreier Jugendlicher, die in den Wirren des frühen 20. Jahrhunderts ihren Weg suchen.

Thorn in Westpreußen, 1910. Der schüchterne Carl, der draufgängerische Artur und die freche Isi sind frohen Mutes, dass der Ernst des Lebens noch ein wenig auf sich warten lässt. Nicht einmal die Nachricht, dass ein Komet namens „Halley“ die Menschheit zu vernichten droht, kann die drei Jugendlichen schockieren. Doch das Erwachsenwerden lässt sich nicht aufhalten: Carl beginnt eine Ausbildung zum Fotografen, Artur und Isi werden ein Paar. Als 1914 die große Weltpolitik über sie herein bricht, reißt es die Freunde auseinander. Artur und Carl werden eingezogen, fernab der Heimat werden die beiden Teil eines Kriegs, der jede Vorstellungskraft sprengt. Derweil hat Isi zuhause in Thorn ganz andere Kämpfe auszufechten. 1918 ist der Krieg endlich vorbei. Nichts ist geblieben, wie es einmal war. Kurzweilig und spannend werden acht Jahre im Leben der drei jungen Menschen begleitet. Andreas Izquierdo zeigt mit seinem Roman ein hervorragendes Bild deutscher Geschichte zur Zeit Wilhelms II.

In einer sorgfältigen Sprache geschrieben, ist das Buch für alle, die am Lesen Freude haben. Der Roman ist anspruchsvoll, jedoch an keiner Stelle langatmig.

Signatur: SL
Schlagworte: Freundschaft | Krieg | Geschichte | Deutschland
Bewertung: +++
Rez.: Andrea Zimmermann

Khider, Abbas: Der Erinnerungsfälscher. Roman. München: Hanser 2022. 125 S. ; 21 cm. ISBN 978-3-446-27274-3, geb.: 19,00 €

Philosophisch-politische Aufarbeitung eines Lebenstraumas durch Verfolgung, Flucht und Heimatlosigkeit.

Der irakische Schriftsteller Said Al-Wahid hat seit Jahren schon einen deutschen Pass und lebt mit Frau und Sohn ein bürgerliches Leben in Berlin. Als ihn der Anruf seines Bruders aus Bagdad erreicht, seine Mutter liege im Sterben, bucht er umgehend einen Flug in den Irak. Auf der Reise überfluten ihn die Erinnerungen an seine Kindheit in Bagdad, seine Flucht als junger Mann über Jordanien und Libyen nach Europa und seine Jahre als Flüchtling in Deutschland. Aber ist auf sein Gedächtnis Verlass? Seine Erfahrungen haben Said so traumatisiert, dass er seine Erinnerungen verdrängt hat und seine Gedächtnislücken mit Erfundenem füllt. Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen und Said, zunächst verstört ob seiner klaffenden Erinnerungslücken, spürt, dass der Schmerz nur so erträglich für ihn ist. Differenziert erzählt Abbas Khider, der selbst in Bagdad geboren wurde und seit 2000 in Deutschland lebt, ein universelles Flüchtlingsschicksal, einer Flucht, die nie zu Ende ist.

Ein sprachlich und inhaltlich überzeugender schmaler, aber ungeheuer intensiver Roman über den Überlebensmechanismus subjektiver Erinnerungen, auch für Lesekreise gerne empfohlen.

Signatur: SL
Schlagworte: Fluchterfahrung | Identität | Heimatlosigkeit
Bewertung: +++
Rez.: Christine Heymer

Menasse, Eva: Dunkelblum. Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2021. 525 S. ; 21 cm. ISBN 978-3-462-04790-5, geb.: 25,00 €

Eine Kleinstadt verweigert die Aufarbeitung eines Massakers am Ende des Krieges. Der Roman blickt hinter die zugezogenen Vorhänge.

1989 – eine Zeit des Umbruchs, auch im fiktiven Dunkelblum an der österreichisch-ungarischen Grenze. Ein Fremder taucht auf und macht sich mit seinen Fragen nach der Vergangenheit keine Freunde; auch einige Einwohner vertiefen sich immer mehr in Recherchen über die Zeit des Kriegsendes; Studierende aus Wien wollen den überwucherten jüdischen Friedhof restaurieren, eine traumatisierte alte Frau versteckt sich in ihren Zeichnungen, ein DDR-Flüchtling wird beherbergt, ein jüdischer Einzelhändler zieht klammheimlich in ein Seniorenheim in Israel ... Eva Menasse wählt ein großes Tableau: Sie erzählt in 51 etwa 10seitigen Kapiteln und wechselt dabei von einer der gut 20 Hauptfiguren zur nächsten. Im Wechsel der Regime haben die Dunkelblumer ihre privaten und wirtschaftlichen Interessen bestmöglich gewahrt und den Mord an jüdischen Zwangsarbeitern im März 1945 mit kollektivem Schweigen belegt. Der Roman fußt auf wahren Begebenheiten.

Hochgelobt, sprachlich gelungen und interessant gemacht geht der Roman in der Figurenzeichnung leider nicht in die Tiefe. Mit einer interessierten Leserschaft ist zu rechnen, deshalb gerne einstellen. Erfordert konzentriertes Lesen.

Signatur: SL
Schlagworte: Krieg | Österreich | Provinz | Anpassung
Bewertung: ++
Rez.: Gabriele Kassenbrock

Nelson, Alice: Das Kinderhaus. Roman. Dt. von Claudia Feldmann. Berlin: List 2019. 313 S. ; 21 cm. Aus d. austral. Engl. ISBN 978-3-471-35181-9, geb.: 18,00 €

Von traumatisierten Müttern, die ihren Kindern nicht ihre Liebe zeigen können.

Constance empfindet keine Zuneigung für ihren Sohn. Sie füttert, badet, pflegt den Zweijährigen, aber ihm Liebe zeigen, das kann sie nicht. Sie ist vor dem Völkermord in Ruanda geflohen und nun in New York gestrandet. Dort trifft sie auf Marina. Die Dozentin kennt sich nur zu gut aus mit Müttern, die ihren Kindern keine Wärme schenken können. Sie ist selbst zusammen mit ihrem Bruder im Kinderhaus eines Kibbuzes aufgewachsen, getrennt von ihrer Mutter, die als Kind während des Zweiten Weltkriegs mutterseelenalleine von Prag nach England und später in die USA geschickt wurde. Marina will der traumatisierten jungen Frau und dem kleinen Gabriel helfen. Dabei beginnt sie neu ihre eigene Biografie, den Suizid des Bruders und das Verschwinden der Mutter zu reflektieren. Die Geschichte über Mütter, die zwar überlebt haben, aber innerlich wie tot sind und Kinder, die nicht anders können, als ihre Mütter zu lieben, könnte leicht ins Rührselige abdriften, aber Alice Nelson erzählt die Schicksale der entwurzelten Flüchtlingsfrauen und deren Kindern behutsam, fast sachlich. Das macht den Roman sehr berührend und unbedingt lesenswert!  

Sehr gerne empfohlen, für alle, die sich für die psychischen Auswirkungen von Völkermorden, Flüchtlingsschicksalen und Traumatisierungen interessieren, auch in der zweiten Generation. 

Signatur: SL
Schlagworte: Mutter | Trauma | Flucht | Kibbuz
Bewertung: +++
Rez.: Dagmar Paffenholz

Nooteboom, Cees: Abschied. Gedicht aus der Zeit des Virus. Zweisprachige Ausgabe. Dt. von Ard Posthuma. Mit Bildern von Max Neumann. Berlin: Suhrkamp 2021. 87 S. : Ill. ; 22 cm. (Bibliothek Suhrkamp 1522). Aus d. Niederländ. ISBN 978-3-518-22522-6, geb.: 22,00 €

Gedichte über das hässliche Antlitz des Krieges und die Abschiede im Alter.

Der mit Illustrationen versehene, ansprechend gestaltete Gedichtband „aus der Zeit des Virus“ ist in drei Kapitel mit jeweils 11 Gedichten gegliedert. Jedes präsentiert sich mit drei nicht gereimten Vierzeilern und einer kurzen, pointierten Schlusszeile. Diese einheitliche Form bedeutet aber keinerlei Einengung der Gedanken- und Assoziationswelt, obwohl thematisch auf den Tod konzentriert. Der Autor selbst erwähnt die „eigenwilligen Wendungen“ seiner Poesie. Es liegt viel Auflehnung in Nootebooms Erinnerungen an Krieg und Soldaten, die zu seiner Kindheit gehören. Diese und die unbarmherzigen Einschränkungen des Alters speisen auch das persönliche Sterbebewusstsein und den Rückzug aus der Welt: „Am Gartentor quengelt die Welt, im / Geräusch einer Zeitung.“,  „Das Palaver der Welt“.  Nooteboom spricht von einem Freund, „der in seinem letzten Bett / einen Kreis zeichnete mit den Händen / und damit Reisen meinte“. Goethe hieß dieser Freund, dessen Namen Nooteboom nicht nennt.

Trotz vieler literarischer Anspielungen  enthalten diese schönen Gedichte so viel  an alltäglicher Lebenserfahrung, dass sie für alle, insbesondere ältere Lyrikfreunde unmittelbar verständlich bleiben. 

Signatur: SL
Schlagworte: Krieg | Tod | Alter | Resignation
Bewertung: +++
Rez.: Barbara von Korff-Schmising

Norek, Olivier: All dies ist nie geschehen. Roman. Dt. von Alexandra Hölscher. München: Blessing 2019. 367 S. ; 21 cm. Aus d. Franz. ISBN 978-3-89667-634-4, kt.: 18,00 €

Spannungsroman um tragische Schicksale im berüchtigten Flüchtlingscamp von Calais.

Adam Sarkis, aus seiner syrischen Heimat geflohen, sucht seine Familie, die er wenige Wochen zuvor auf die gefährliche Flüchtlingsroute von Libyen über das Mittelmeer geschickt hat, im berüchtigten französischen Flüchtlingscamp von Calais. Von dort soll es weitergehen nach England. Was er nicht weiß: seine Frau und sein Kind sind bei der Überfahrt gestorben. Er wartet verzweifelt und um nicht verrückt zu werden, wie so viele Flüchtlinge ohne Hoffnung, kümmert er sich um ein sudanesisches Kind und schützt es vor der brutalen Gewalt, die im Lager herrscht. Bastien Miller, ein französischer Polizist, schockiert von den schrecklichen Zuständen dort, hilft ihm nach Kräften und riskiert dabei seinen Job. Olivier Norek ist ein spannungsreicher, erschütternder Roman gelungen, der auf wahren Ereignissen beruht und das grausame Leben im berüchtigten 'Dschungel' von Calais schildert, das von Gewalt und Hoffnungslosigkeit geprägt ist. Nur die polizeilichen Ermittlungen sind fiktiv.

Kein klassischer Krimi oder Thriller, sondern ein aufrüttelnder Roman, der zutiefst berührt und sensibilisiert für Flüchtlingsschicksale. Nachdrücklich empfohlen.

Signatur: SL
Schlagworte: Flucht | Migration | Frankreich | Krimi
Bewertung: +++
Rez.: Wolfgang Vetter

Poladjan, Katerina: Hier sind Löwen. Roman. Frankfurt: Fischer 2019. 287 S. ; 21 cm. ISBN 978-3-10-397381-5, geb.: 22,00 €

Lebensweisheiten am Abgrund des Lebens und trotz schrecklicher Verfolgung und Vernichtung.

Armenien, Bergkarabach, Genozid, Kinder, die sich allein durch die Berge schlagen. Das klingt nach einem absehbaren Plot mit einer heftigen Prise Betroffenheit. Aber nein. Es ist ein zartes Buch. Schmal in jeder Hinsicht, ohne mager zu sein. Uneitel berichtet die Protagonistin von ihrer Langeweile gegenüber Familiengeschichten, die zu grausam sind, um sie zu ertragen. Trotzdem macht sie sich auf den Weg nach Armenien, wo ihre Wurzeln sein könnten. Sie wird sie nicht finden, aber sie wird eine Geschichte erzählen, die ihre sein könnte, sie wird Menschen begegnen, mit denen die Leserin auch gern bei Tisch sitzen würde. Es ist kein Reisebericht. Es ist ein Liebesroman. Das auch. Außerdem ein Buch über die Liebe zum Buch, die sich in haarfeiner Restauration alter Bücher abbildet. Die armenischen Frauen sind so lebensecht, dass ihre Schnörkellosigkeit schon weh tut. Am Ende gibt es einen Toten und eine Hoffnung. Das ist schon viel. Übrigens auch ein sprachlicher Genuss. Auch hier: schmal.

Bestens geeignet für Literaturgottesdienste. Unbedingt anschaffen.

Signatur: SL
Schlagworte: Armenien | Krieg | Kindheit | Frau
Bewertung: +++
Rez.: Christiane Thiel

Rohn, Reinhard: Die sieben Leben des Anton Busch. Roman. München: Dt. Taschenbuch Verl. 2020. 445 S. ; 22 cm. ISBN 978-3-423-28202-4, geb.: 22,00 €

Scheinbar unspektakulärer Alltag zwischen Pommern und Norddeutschland.

Die Gabe des Gedankenlesens erbt Anton von seinem Großvater, einem Gänsehirten. Das ist der Beginn der Geschichte des fast 80jährigen Anton Busch, geboren 1939 im pommerschen Schönow, als Kind einer Bauernfamilie aus dem Oldenburger Münsterland. Anton schreibt die Geschichte in Rückblicken auf, eingeteilt in sieben Teile, wie sieben Leben. Sein hohes Alter ist geprägt von zwei Erkenntnissen: Jedes Leben ist einzigartig und kein Mensch lebt nur ein Leben, manchmal sind es auch viele. Es ist Mai 1945 in Pommern, Deutschland hat den Krieg verloren, Soldaten nähern sich, die Familie Busch muss fliehen. Anton erzählt von seiner entbehrungsreichen Kindheit, von Krieg und der Flucht. Er wird erwachsen in den Wirtschaftswunderjahren der jungen BRD, arbeitet, liebt und heiratet. Der Autor Reinhard Rohn hat die Erinnerungen seines Onkels als Vorlage für den Roman benutzt und mit eigener Fantasie ergänzt. Er besitzt die Fähigkeit genau die richtigen Formulierungen zu finden.

Ein wunderbares gefühlvolles, lebensnahes Buch.

Signatur: SL
Schlagworte: Krieg | Erinnerungen
Bewertung: +++
Rez.: Gabriele Rojek

Rothmann, Ralf: Die Nacht unterm Schnee. Roman. Berlin: Suhrkamp 2022. 303 S. ; 21 cm. ISBN 978-3-518-43085-9, geb.: 24,00 €

3. Teil der Trilogie über Leben, Überleben und Weiterleben am Ende des 2. Weltkrieges bis in die westdeutsche Nachkriegszeit.

Meisterhaft, berührend, sinnlich und bis an die Schmerzgrenze erzählt der Autor in einem weiteren Buch vom Leben seiner Eltern. Im Mittelpunkt steht die junge Elisabeth, die nach der Flucht aus Pommern in Norddeutschland gelandet ist und in der Gaststätte von Luisas Mutter arbeitet. Mit Luisa als Erzählerin schafft Rothmann die nötige Distanz, um alle Facetten des elterlichen Lebens nicht aus der Perspektive eines betroffenenen Kindes zu schildern. Zwischen die 7 Kapitel bis zu Elisabeths Sterben als Bergmannsfrau und Kellnerin im Ruhrgebiet setzt Rothmann die Passagen über die Flucht eines namenlosen Mädchens, das nicht nur unsägliches Leid mitansehen, sondern nach mehreren Vergewaltigungen auch am eigenen Leib erfahren muss. Beide Erzählstränge fesseln und lassen Elisabeth als eine starke, geschundene und nach Leben dürstende Frau aufscheinen. Der Motor zum Schreiben sei die Liebe zu seinen Eltern, so Rothmann. Das ist spürbar. Ehrlichkeit auch über Elisabeths Härte gegenüber Mann und Kindern gehört zu dieser Familiengeschichte, die zeigt, wie der Krieg Menschen zurichtet.

Tiefer und eindringlich nimmt der Roman auch Motive aus „Milch und Kohle" (Ev. Buchpreis 2003) auf. Eine überaus lohnende und bereichernde Lektüre für alle, die sprachgewaltige Literatur lieben.

Signatur: SL
Schlagworte: Krieg | Familie | Mutter | Nachkrieg
Bewertung: +++
Rez.: Gabriele Kassenbrock

Shire, Warsan: Haus Feuer Körper. Bless the Daughter Raised by a Voice in Her Head (zweisprachige Ausgabe Englisch-Deutsch). Gedichte. Dt. von Muna AnNisa Aikins, Mirjam Nuenning, Hans Jürgen Balmes. Frankfurt am Main: S. Fischer 2022. 153 S. ; 24 cm. Aus d. Engl. ISBN 978-3-10-397106-4, geb.: 24,00 €

Gedichte über Frauen, Leid, Krieg, Flucht und Vertreibung.

Warsan Shire wurde 1988 in Kenia als Tochter somalischer Eltern geboren. Mit einem Jahr zog ihre Familie nach England, wo sie ein Studium in kreativem Schreiben absolvierte. Größere Bekanntheit erlangte sie durch die Zusammenarbeit mit der Sängerin Beyoncé. In ihren Gedichten verarbeitet sie Erzählungen Familienangehöriger und Freunde, die vor dem Bürgerkrieg in Somalia flohen, ihn überlebten oder starben. Es sind eindrückliche, ehrliche Gedichte, die in der Tradition somalischer Geschichtenerzähler*innen stehen, die in scheinbar leichter Sprache aber verschlüsselt Geschichten und Anekdoten weitergaben, die zuhörende Kinder nicht verstehen sollten. Diese schmerzhaften aber wichtigen Gedichte - wichtig, weil sie uns das Leid der Menschen erlebbar machen - wurden von mehreren Übersetzer*innen vom Englischen ins Deutsche übersetzt. Somalische Begriffe sind in einem Glossar gelistet. „Ich kriege die Flucht nicht aus meinem Körper,“ ... aus dem Gedicht „Anpassung“ S. 19.     
 
Diese zweisprachige Ausgabe der eindrücklichen Gedichte kann bei der Arbeit für und mit Geflüchteten helfen.

Signatur: SL
Schlagworte: Gedichte | Flucht
Bewertung: ++
Rez.: Bärbel McWilliams

Stanišić, Saša: Herkunft. München: Luchterhand 2019. 355 S. ; 22 cm. ISBN 978-3-630-87473-9, geb.: 22,00 €

Quasi ein Roadmovie des eigenen Lebens, zwischen Herkunft und Ankommen.

Wohlstands-, Wirtschafts- und Luxusflüchtlinge überfluten unser Land. Wer das immer noch glaubt, sollte diesen Roman lesen.
Wenn die Umstände das Leben so verändern, dass man das Leben ändern muss, wenn die eigene Courage, die eigene Persönlichkeit plötzlich in Frage steht, wenn also alles von einem abverlangt wird, dann sprechen wir von einem Neuanfang in einem anderen Land.
In einer so wundervollen Sprache, einem so ungemein sensiblen Erzählstil, einer so liebegefüllten Weise erzählt Stanisic aus seinem Leben, aus dem Dorf, aus dem er stammt, spricht er aus dem Leben seiner geliebten Großmutter und erzählt er aus dem Leben, das in diesem unserem Land neu starten musste.
Der Autor spricht nicht einmal „über“ das, was er erzählt. Wir begegnen hier einem Könner, der „aus“ der Erzählung spricht, der dem Leser sein Erzählen schenkt.
Darum wird hier sparsam rezensiert, weil der Leser selbst dem Erzähler zuhören soll.

Bitte unbedingt anschaffen!

Signatur: SL
Schlagworte: Familie | Flucht | Migration | Deutschland
Bewertung: +++
Rez.: Dirk Purz

Jamalzadeh, Elyas u. Hepp, Andreas: Freitag ist ein guter Tag zum Flüchten. Wien: Zsolnay 2022. 254 S. ; 21 cm. ISBN 978-3-552-07289-3, geb.: 22,00 €

Ein Leben im Iran und die anstrengende und abenteuerliche Flucht eines afghanischen jungen Mannes von dort nach Österreich.

Elyas Jamalzadeh gelingt es, dieses Buch zusammen mit seinem Freund aus dem neuen Heimatland, Andreas Hepp, sehr persönlich, eigenwillig und überzeugend zu gestalten. Die LeserInnen werden dadurch hineingenommen in eine Fluchtgeschichte, die sich vieltausendfach wiederholt und doch hier ganz einmalig ist. Es gelingt überzeugend und auch sehr emotional deutlich zu machen, dass Flucht einerseits ein Grundgeschehen dieser Tage ist und andererseits persönlich durch Enttäuschungen, Fehlstarts und große Lebensgefahr und auch Wunder gekennzeichnet ist. Der Inhalt und die aufmerksame Gestaltung dieses Werkes verdeutlichen sehr direkt eine Mischung aus Angst und vertrauensvoller Zuversicht; trotz allem. Nicht zuletzt der Humor des Flüchtenden, der immer wieder zutage tritt, lässt das Buch nicht so leicht aus der Hand legen. Das Leben im Iran, die Fluchterfahrungen und schließlich das neue Leben als Friseur in der Alpenrepublik ist kaum zu beschreiben, doch es gelingt!

Dieses Buch sollte seinen Platz in unseren Büchereien finden und erklären helfen, was die Flucht in diesen Tagen auch bedeuten kann.

Signatur: Bb
Schlagworte: Flucht | Gefahren | Hoffnung | Vertrauen
Bewertung: +++
Rez.: Kurt Triebel

Kossert, Andreas: Flucht - Eine Menschheitsgeschichte. München: Siedler 2020. 431 S. : Ill. ; 22 cm. ISBN 978-3-8275-0091-5, geb.: 25,00 €

Flucht und Vertreibung in der Menschheitsgeschichte und ihre Auswirkungen auf die Betroffenen.


Schon das Alte Testament berichtet von Flucht, Fremdheit und Exil: Letztlich sei die Bibel „ein Buch von Flüchtlingen für Flüchtlinge. Heimatverlust und Heimatsuche sind seine Kernthemen", schrieb der Theologe Johann Hinrich Claussen. So steht denn auch der Auszug der Israeliten aus Ägypten am Beginn von Andreas Kosserts „Menschheitsgeschichte der Flucht". Bis zu den gegenwärtigen Fluchtbewegungen zeichnet der Historiker ein bedrückendes Panorama eines ewig wiederkehrenden Dramas. Ganze Völker wurden im Laufe der Jahrhunderte kollektiv aus ihrer Heimat vertrieben, manche sogar völlig ausgerottet – und zwar auf allen Kontinenten. Kossert erinnert an diese Menschheitsverbrechen, ordnet sie historisch ein – und lässt die Betroffenen selbst zu Wort kommen: In vielen, auch literarischen Quellen sprechen sie über das Trauma des Heimatverlustes, das Heimweh, die Anfeindungen in den Ankunftsländern. Ein bedrückendes, wichtiges und brillant geschriebenes Buch, sehr zur Lektüre empfohlen.  

Für politisch Interessierte geeignet, die das Thema bewegt und beunruhigt.

Signatur: Sb
Schlagworte: Flucht und Vertreibung | Genozid | Heimatverlust | Entwurzelung
Bewertung: +++
Rez.: Michael Freitag