Und es geht doch: (Jugend-)Romane als Ganzschrift im Religionsunterricht

 

„Bist du verrückt?“ 
„Die Jugendlichen ächzen doch schon unter dem Deutschunterricht!“
„Wann soll ich denn das noch machen?“ 
„Freiwillig lesen? Das tut in meinen Klassen niemand.“
„Zu wenig Zeit, zu viel Stoff, tut mir leid.“

Die Vorbehalte gegenüber Ganzschriften im Religionsunterricht sind groß. Und die Gegenargumente sind nicht ohne Gewicht: Religion wird in der Regel nur einmal wöchentlich erteilt. Insbesondere bei Jungen zeigt sich eine zunehmende Lesefaulheit. Der Vorbereitungsaufwand ist für Lehrkräfte – beim ersten Mal – beträchtlich. Und echte Literatur enthält nur sehr ansatzweise das, was in den Lehrplänen an Inhalten aufgelistet ist. 

Dennoch: Ganzschriften sind eine enorme Bereicherung für den Religionsunterricht und leisten einen erstklassigen Bildungsbeitrag. Warum? 

Lebensfernes Christentum-Wissen und konstruierte Religion sind der Tod des Religionsunterrichts. Was helfen gewissenhaft abgehakte Lehrplaninhalte, Bibeltexte, Traditionen und Grundbegriffe, wenn sie ohne Bedeutung für die Person bleiben? Gute Ganzschriften bewirken das Gegenteil! An fünf Fingern zähle ich die wichtigsten Argumente ab (und nutze dabei inzwischen gängige Begriffe nach Georg Langenhorst). 

  1. Identifikation und Erfahrungserweiterung: Lesende machen „echte“ Erfahrungen, wenn sie in einen Roman eintauchen. Sie identifizieren sich mit den literarischen Figuren. Sie reden nicht über Schuld, über Menschenwürde, über Einsamkeit oder über die Angst vor dem Tod, sondern machen diese Grunderfahrungen selbst. Sie erleben aus mindestens einer Perspektive, was sie so noch nie erlebt haben. 
  2. Emotion und Wirklichkeitserschließung: Das, was die Lesenden erleben, hat mit ihnen selbst und ihrer Wirklichkeit zu tun: Das literarische Thema wird zum eigenen Thema, dessen religiöse Relevanz bekommt eigene Relevanz. In Auseinandersetzung mit religiösen Themen entwickeln die Lernenden ihre Persönlichkeit: Lesen bildet.
  3. Religion und Textspiegelung: Religion wird in der Regel explizit verstanden. Es geht um Gott oder Jesus Christus, um Sünde und Auferstehung und die Bibel. Doch das Leben ist anders, und Religion in Romanen ist auch anders. Religiöses oder Gott kommen im Roman wie im Leben meist indirekt ins Spiel. Wer genau liest, findet religiöse und biblische Traditionen im Text gespiegelt, kann sie aufspüren und mit fachlichen Begriffen deuten – Traditionen in anderem Gewand, Religion im Leben eben. 
  4. Narration und Sprachsensibilisierung: Lesende finden Sprache vor, die sie sich leihen und aneignen können. Wie redet man in Grenzsituationen? Wie drückt man eigene Ängste aus? Mit welchen Codes kann man sich verständigen? In der Literatur spielen immer Symbole und Motive eine Rolle. Ein Bösewicht wird nicht böse genannt, sondern an Textsignalen als böse erkannt. Wer liest, lernt symbolische Kommunikation. Auch Religion ist, richtig verstanden, nichts anderes. Doch schon der profane Spracherwerb ist Bildung pur. Sprache ist der Schlüssel zur Welt. 
  5. Fiktion und Möglichkeitsandeutung: Die Welt und ich selbst könnten ganz anders sein. Lesende lernen das von Anfang an, weil fiktionale Literatur verschiedene Entscheidungs- oder Entwicklungsmöglichkeiten andeutet. Die Welt mit anderen Augen zu sehen, braucht die Fähigkeit zur Fantasie. Ohne ein bisschen Vorstellungskraft ist auch religiöses Vertrauen nicht zu haben. Lesen fördert Imagination. 

Mit einem Jugendbuch oder einem Roman wird der Religionsunterricht nicht verfehlt, sondern kommt vielmehr zu sich selbst. Sicher: Nicht als tägliche Alltagspraxis! An den fünf Fingern meiner anderen Hand will ich aufzeigen, worauf es in der Praxis ankommt, damit es wirklich gelingt. 

  1. Wählen Sie ein passendes, nicht zu dickes und gut erzähltes Buch, bei dem die Lernenden anbeißen. Schülerinnen und Schüler merken, wenn die Literatur nur Verpackungsmaterial für Lerninhalte ist. Sie merken aber umgekehrt auch, wenn ein Buch zu Herzen geht oder mit Spannung verwickelt.
  2. Lesen Sie regelmäßig gemeinsam im Unterricht. Oft denken Lehrkräfte, man dürfe die wertvolle Unterrichtszeit nicht verschwenden. Aber gemeinsames Lesen wertet die Lektüre auf, erlaubt Abwechslung und Begleitung und nimmt Lesemuffel mit. Besonders der Einstieg verdient Aufmerksamkeit. Kleine Portionen als Hausaufgabe und überbrückendes Erzählen sind begrenzt möglich. 
  3. Verbinden Sie zentrale Textausschnitte mit Zusatzmaterial, das sie sonst im Unterricht einsetzen. Jede Stunde braucht einen Schwerpunkt. Fünf bis sechs zentrale Textpassagen geben einer Unterrichtssequenz schon ein Gerüst, auf das sich fachliches Hintergrundmaterial beziehen lässt. Verzwecken sollte man das Buch dabei nicht. Am elegantesten ist es, Leerstellen zu füllen oder fiktive Anschlüsse herzustellen.
  4. Stellen Sie handlungs- und produktionsorientierte Aufgaben. Lernende lassen sich lesend verwickeln, wenn sie gestalterisch aktiv werden. Aus einer Rolle Tagebucheinträge oder Posts verfassen, Gefühle zum Ausdruck oder Nebenfiguren zum Sprechen bringen, Szenen erfinden und Begegnungen spielen lassen: Methoden dieser Art machen Lesarten sichtbar und stärken die Interpretationsfähigkeiten der Lesenden. Das involviert. 
  5. Nutzen sie gezielt Ressourcen bei der Vorbereitung. Die Vorbereitung braucht Vorlauf. Ein Szenenprotokoll, also Notizen mit Seitenzahlangaben zum Verlauf, hilft als Gedächtnisstütze. Vielleicht verankern Sie die Arbeit mit dem Buch im Schulcurriculum? Dann können sie die Sequenz im Team arbeitsteilig vorbereiten. Zu manchen Büchern gibt es auch Unterrichtshilfen und -anregungen – zum Beispiel von eliport. 

Rainer Merkel, 

Lehrer am Hainberg-Gymnasium und Fachleiter für Religion am Studienseminar in Göttingen

Fertige Unterrichtsentwürfe zum Download 

“Oben Erde, unten Himmel” - Bausteine für den Unterricht zum Roman in den Jahrgangsstufen 8 - 10 

Hier finden Sie drei Bausteine, die einzeln und unabhängig voneinander im Unterricht eingesetzt werden können. 
Die Bausteine befassen sich mit folgenden Themen: 
- Einsamkeit ("Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist" Gen 2,18)
- Die Würde der Toten ("Sie kauften wohlriechende Öle, um hinzugehen und ihn zu salben." nach Mk 16,1) 
- Mensch-Sein ("Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?" Ps 8,5a) 

Download der Unterrichtsentwürfe 

“Wenn dein Kind dich morgen fragt…” - Ideen für eine Projektarbeit mit Jugendlichen zum Buch “Heimat” von Nora Krug 

Hier finden sich drei Einheiten für den Religions- oder Konfirmationsunterricht zu folgenden Themen: 
- Einheit 1: Wer bin ich? 
- Einheit 2: Wo liegen meine Wurzeln? 
- Einheit 3: “Wenn dein Kind dich morgen fragt…” - Verantwortung übernehmen 

Download der Unterrichtsentwürfe 

Bausteine für eine Konfirmand:innen- oder Religionsunterrichtsstunde zum Jugenbuch “Schön wie die Acht” von Nikola Huppertz 

Hier finden Sie eine ausgearbeitete Unterrichtsstunde zu den Themen Familie und Erwachsenwerden mit einer Bezugnahme zur Geschichte vom 12-jährigen Jesus im Tempel. 
Die Stunde kann sowohl im Konfirmations-, als auch im Religionsunterricht der Klassen 8 und 9 eingesetzt werden. 

Download der Unterrichtsentwürfe 

“Seht doch die Vögel!” - Biblische Berührungspunkte mit “Rabenrosa” von Helga Bansch für den Religionsunterricht in der Grundschule oder auch im (Kinder)Gottesdienst 

Hier finden Sie Verknüpfungen zwischen dem Bilderbuch “Rabenrosa” und der Bibel zu folgenden Themen: 
- Die Raben
- Das Nest
- Die Brut 
- Der Vogelzug 

Download der Unterrichtsentwürfe 

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