Rituale in der Familie - Schwerpunkt Abendrituale

 

Die Anforderungen eines Familienalltages verändern sich in unserer komplexen Gesellschaft ständig. Das gilt für Eltern und Kinder gleichermaßen. Hier schaffen vertraute und wiederkehrende Abläufe oder Handlungen einen Überblick, geben Sicherheit und Halt, schaffen Vertrauen in sich und andere.
Für Familien haben Rituale eine stabilisierende und integrierende Funktion. Durch sie entsteht Gemeinschaft und gleichzeitig wird diese Gemeinschaft durch die rituelle Praxis immer wieder neu geprägt und gefestigt. Familien können aus Ritualen Kraft und Energie schöpfen.

Was sind Rituale?
Rituale sind in ihrer Struktur auf Wiederholbarkeit angelegt. Im regelmäßigen Vollzug entwickeln sie eine Selbstverständlichkeit. Sie geben zeitlichen Verläufen, Beziehungen, Gefühlen und Veränderungen sinnlichen Ausdruck. Mit ihrem symbolischen Gehalt verweisen die Rituale auf Bedeutung und Sinn der jeweiligen Situation.

Rituale unterscheiden sich von einfachen Regeln, Gewohnheiten und Gesten durch ihre symbolische Qualität. Sie weisen über sich selbst hinaus. Zähneputzen allein ist noch kein Abendritual. Aber wenn das Zähneputzen eingebunden ist in eine abendliche Abfolge von Handlungen, die den Tag beschließen und auf die Nacht vorbereiten, wird es zum Teil eines Rituals.

Das Abendritual – ein Alltagsritual
Alltagsrituale gliedern den Tag. Sie geben der alltäglichen Zeit Rhythmus und Takt und gestalten die Übergänge der einzelnen Tageszeiten und –orte. Sie helfen, morgens den ungewissen Tag anzugehen, schaffen erwartungsvolle Vorfreude oder vermitteln Sicherheit und Geborgenheit bei Schwerem und Unvorhergesehenem. Sie ermöglichen abends einen zuversichtlichen Übergang vom Tag in die Ruhe der Nacht.

Bei Abendritualen ist es besonders wichtig, dass alles genau gleich abläuft: das gleiche Lied, die gleiche Reihenfolge, manchmal sogar die gleiche Geschichte, die gleichen Worte und Gesten. Der Übergang von den gemeinsamen Aktivitäten des Tages in die einsame Ruhe der Nacht ist für Kinder eine besondere Herausforderung. Besonders dann, wenn nicht zuhause in vertrauter Umgebung übernachtet wird. Hier braucht es Sicherheit gegen die Angst vor dem Alleinsein, dem Dunkel und dem Ungewissen. Hier braucht es Vertrauen in die Bezugspersonen und Vergewisserung in ein Behütetsein, das über die Möglichkeiten der Erwachsenen hinausgeht. Ein Abendgebet oder -lied, ein Segen, ein Kreuzzeichen bringt diese Hoffnung mit Gott in Verbindung. Ihm kann der Tag mit seinen Sorgen und Freuden zurückgegeben, ihm können alle für die Nacht anvertraut werden.

Rituale müssen sich weiterentwickeln
Rituale in der Familie –  sie können Strukturen und Ordnung schaffen, und so mit einem äußeren Rahmen Sicherheit vermitteln, die Kinder brauchen, um innere Freiheit zu erfahren und auszuprobieren. Sie können beruhigen, Sinn stiften, Trost spenden und Geborgenheit vermitteln. Sie strukturieren Zeit. Sie fördern Gemeinschaft und stärken Beziehungen.

Aber Rituale sind ambivalent. Sie können auch zu erstarrten Routinehandlungen, langweiligen Zeremonien oder lieblosen Schemata werden. Jedes Ritual lebt davon, dass es für alle Beteiligten stimmig in Inhalt und Form ist. Wenn sich also die Beteiligten verändern, müssen sich auch Rituale verändern, sich weiterentwickeln. Was für ein Abendritual mit einem dreijährigen Kind gut und richtig war, ist für das Zubettgehen eines 13-jährigen Jugendlichen unpassend. Wenn sich familiäre Strukturen und Situationen verändern, müssen sich auch Rituale verändern. Daher ist es gut und nötig, Rituale immer wieder bewusst in den Blick zu nehmen und als Familie zu prüfen: Welche Rituale haben wir? Was ist uns bei diesen Ritualen wichtig? Tun uns diese Rituale gut? Stimmen Form und Bedeutung noch überein? Was wollen wir ändern? Wie soll ein neues Ritual aussehen? Wenn diese Fragen bedacht, beantwortet und in das Familienleben integriert werden, werden Rituale wieder neu lebendig, bedeutsam und sinnvoll.

Susanne Betz