Vom Ev. Buchpreis zum Booker Prize
In „Aller Tage Abend“ nimmt das Leben in immer neuen Zeiten andere Wege. Einmal stirbt ein Mädchen noch als Säugling und macht mit ihrem Tod aus der Großmutter wieder eine Mutter und aus der Mutter wieder eine kinderlose junge Frau, deren Leben durch das Pogrom, das wiederum das Leben ihrer Mutter für immer mit Schrecken verändert hat, zu einem Leben in
Angst und Not geworden ist. Im nächsten Buch des Buches dann wird das Kind später sterben. Und so weiter. Zuletzt stirbt der Säugling als hochbetagte Frau im Altenheim.
Für dieses Werk hat Jenny Erpenbeck 2013 den „Evangelischen Buchpreis“ bekommen. Nun ist sie vor wenigen Tagen als erste deutsche Autorin für ihr Werk „Kairos“ mit dem Internationalen Booker Prize ausgezeichnet worden. Es ist ein Buch, mit dem sie es in der Bundesrepublik und der von Westdeutschen dominierten Feuilettonlandschaft schwer hatte. Es erzählt eine Liebesgeschichte mit Verwerfungen zwischen einer sehr jungen und einem deutlich älteren Mann in den letzten Jahren der DDR. Eine Liebe zwischen einer Frau, die die DDR als brüchig und unglaubwürdig erlebt und einem, der als überzeugter Kommunist ganz im Dienst des Systems stehen zu müssen meint, dem aber die Privilegien, der er genießt, das Leben angenehm machen. Die Liebe währt länger als das Land, in dem sie begann. Der Untergang desselben aber wird von Erpenbeck in großer Klarheit und Schonungslosigkeit dargestellt. Sie erzählt aus den wenigen Wochen des „warme Oktoberwind“ (wie Tamara Danz es mal genannt hat) wahrhaftig und lässt die grausamen Seiten des Systemwechsels (und die perverse Willkür, mit der manche westdeutsche Verantwortungsträger an ostdeutschen Menschen gewirkt haben) nicht aus. Schon in „Aller Tage Abend“ hat sie die bleibende Fremdheit mancher kluger Ostdeutscher im neuen Land literarisch bewegend in Worte zu fassen gewusst. In „Kairos“ wird diese Fremdheit zum Thema der Literatur. Großartig! Die Erzählerin, Enkelin der bekannten DDRSchriftstellerin Hedda Zinner, schreibt eine geronnene, reduzierte Sprache, die aus jedem Satz Lyrik macht. Der Übersetzer, der beim Booker Prize mit geehrt wird, Michael Hofmann, muss Großes leisten, um die Sprache dieser Autorin angemessen übersetzen zu können. Ich freue mich, dass wir dieser Autorin bereits 2013 im evangelischen Kontext eine Ehrung zuteil haben lassen. Jetzt ist es höchste Zeit, sie wieder zu lesen.